Vom Hausverstand, schönen Worten, fehlenden und falschen Taten

Für alle, die den Zustand des Wiener Hauptradverkehrsnetzes kennen, war unser Aprilscherz leicht durchschaubar. Das Statement war eine Mischung aus Fakten und Zitaten aus von der Stadt Wien veröffentlichten Dokumenten, garniert mit schöngefärbten Aussagen im Stile der selbsternannten Wiener Fortschrittskoalition.

Radeln For Future verabschiedet sich nicht

Zumindest in absehbarer Zeit nicht. Es gibt zwar von Jahr zu Jahr Fortschritte im Ausbau des Radwegenetzes, aber mit dem Schneckentempo der Stadtregierung ist das Ziel eines dichten Netzes durchgängiger Radwege noch weit entfernt. Es besteht daher weiterhin Bedarf an unseren monatlichen Raddemos und anderen Aktionen. Die nächste Gelegenheit zum Mitradeln gibt es schon am Freitag, 5. April 2024. Die Route führt gemeinsam mit 3 lokalen Initiativen durch Ottakring und Hernals.

Fortschritte, aber zu wenig und zu langsam

Die jährlichen Bauprogramme für Radverkehrsanlagen umfassen seit 2022 mehr Projekte und davon sind auch mehr Radwege als früher. Diese Verbesserung basiert vor allem auf höheren Fördergeldern aus dem Bundesbudget. Wurden bis 2020 nur 1-1,5 Mio. Euro vom Bund zugeschossen, erhöhte sich dieser Betrag für 2021 und 2022 schon auf je rund 6 Mio. Euro. Für 2023/24 wurden vom Bund sogar Fördergelder in der Höhe von 28 Mio. Euro zugesagt – unter der Voraussetzung, dass die eingereichten Projekte innerhalb der nächsten 2 Jahre umgesetzt werden. Aus dem Budget der Stadt Wien hat die selbsternannte Fortschrittskoalition für die aktuelle Legislaturperiode 26 Mio. Euro für den Radverkehr eingeplant – also rund 5,2 Mio. Euro jährlich. Weitere Details zu diesem Thema bietet die Analyse der Radlobby.

Gemessen am erhöhten Budget ist die gesteigerte Qualität der jährlich angekündigen Projekte – von denen längst nicht alle umgesetzt und fertiggestellt werden, s. die Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“ – nicht mega, sondern eine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommt, dass nicht alle Projekte den Bau neuer Radwege umfassen, wie es durch die Bezeichnung suggeriert wird.

Papier ist geduldig

Am Papier haben z. B. fahrradfreundliche Strukturen hohe Priorität bei der Planung neuer Stadtgebiete. Die Realität offenbart den Unterschied zwischen Beschlüssen und deren Umsetzung. Weder in der Seestadt Aspern noch im Nordbahnviertel wurde bisher sichere Radinfrastruktur errichtet. In den beiden neuen Stadtvierteln bestehen die Anlagen des Hauptradverkehrsnetzes auf den Hauptstraßen nur aus Mehrzweckstreifen. Nebenstraßen sind durch die teilweise Gestaltung als Sackgassen für Kfz zwar verkehrsberuhigt, aber im Alltag Radelnde bevorzugen wie auch Autofahrende direkte Verbindungen. Daher ist es unerlässlich, die erwähnte hohe Priorität bei der Planung fahrradfreundlicher Strukturen vom Papier auf die Straße zu bringen und dabei auf praxistaugliche direkte Verbindungen zu setzen.

Mehr Radverkehr hilft bei der Lösung innerstädtischer Verkehrsprobleme

Auch in diesem Punkt klafft eine riesige Lücke zwischen den Bekenntnissen auf Papier und der Umsetzung. Beim Überfliegen der Regierungsvereinbarung der Wiener Fortschrittskoalition erscheint es, als ob die Verantwortlichen die Notwendigkeit der Verkehrswende tatsächlich erkannt hätten, in der Praxis dominieren Scheinlösungen.

Der Kurs von Verkehrsstadträtin Sima stimmt nur zum Teil. Auf der einen Seite lässt sie das Radwegenetz weiterhin ausbauen, wobei Geschwindigkeit und Art des Ausbaus aber zu wünschen übrig lassen und nicht den Ankündigungen entsprechen, s. die Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“. Auf der anderen Seite verteidigt sie den Bau des als „Stadtstraße“ kleingeredeten Autobahnzubringers in der Donaustadt mit fadenscheinigen Argumenten.

Aufgrund des großteils gut ausgebauten Netzes des ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) kommt dem Radverkehr in Wien große Bedeutung bei der anvisierten Reduktion des Autoverkehrs zu. Ein Netz sicherer Radwege ist ein attraktives Angebot, das vielen den Umstieg vom teuren klimaschädlichen Auto auf das günstigere klimafreundliche gesundheitsfördernde Fahrrad ermöglicht.

Mehr Radverkehr hebt insgesamt die Lebensqualität in den Städten

Diese Überschrift ist ein zutreffendes Zitat aus dem Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“. Es gibt viele Gründe, warum die Lebensqualität durch ein Mehr an Rad- und ein Weniger an Kfz-Verkehr steigt. Ein paar davon sind: Weniger Lärm, weniger Unfälle, weniger Emissionen, bessere Gesundheit, mehr soziale Gerechtigkeit.

Wien ist eine der lebenswertesten Städte der Welt, aber leider nicht für alle. Für Radfahrende und dabei speziell für Kinder gibt es ganz klar bessere Städte. Auch für Menschen, die gerne im Alltag mit dem Radfahren wollen, es aber mangels sicherer Radwege nicht wagen, fehlt ein attraktives Angebot.

Bis zur 33. Novelle der Straßenverkehrsordnung war das Nebeneinanderfahren Radfahrender nur in Fahrradstraßen erlaubt. Jetzt dürfen Kinder auf diese Weise vollkommen legal vom Kfz-Verkehr abgeschirmt werden. Wer jemals radfahrende Kinder im Straßenverkehr begleitet hat, weiß wie wichtig diese Änderung in der StVO war. Gleichzeitig kann das aber nur als Notlösung gelten, bis auf allen Hauptstraßen Radwege errichtet und Seitengassen verkehrsberuhigt sind.

Viele meinen, Kinder bräuchten keine Radwege, weil sie auf Gehsteigen radeln können. Das Gesetz erlaubt das allerdings nur mit Fahrrädern, deren Felgendurchmesser maximal 30 Zentimeter beträgt. Haben die Fahrräder größere Felgen montiert, dürfen legal nur Radwege und Straßen befahren werden. Dass Volksschulkinder in Wien kostenlose Radfahrkurse besuchen können ist begrüßenswert, wichtiger wäre aber der rasche und flächendeckende Ausbau sicherer Infrastruktur. Denn wer denkt, dass ein mehrstündiger Kurs Kinder auf das Radeln im Mischverkehr mit Kfz vorbereiten kann?

Schöne Worte, fehlende Taten …

Der Wiener Klimafahrplan wurde am 23. Februar 2022 mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, GRÜNE und NEOS beschlossen. Darin wird u. a. vermerkt, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Modal Split bis zum Jahr 2030 auf 15 Prozent sinkt (2023: 26 Prozent). Wieder zeigt sich der Unterschied zwischen Beschlüssen am Papier und der Umsetzung in der Praxis. Auch Fachleute sehen nicht, wie der für 2030 gewünschte Modal Split mit den Maßnahmen der Fortschrittskoalition erreicht werden kann.

… und falsche Taten

Die Wiener Fortschrittskoalition treibt auch große Straßenbauprojekte wie den Autobahnzubringer „Stadtstraße“ oder die Sanierung der Autobahn A4, für die mehr als 1.200 Bäume gerodet werden sollen, voran. Mit derartigen Projekten rücken die Ziele des Klimafahrplans in weite Ferne.

Hirschstetten ist nicht mehr zu retten, aber für die Bäume neben der A4 entlang des Donaukanals besteht noch Hoffnung. Wenn SPÖ und NEOS dabei mithelfen wollen, Wien zur Klimamusterstadt zu machen, müssen sie sich für eine klimafitte Sanierung der A4 einsetzen. Denn auch tausende Neupflanzungen können Jahrzehnte alte gesunde Bäume nicht ersetzen.

Um für den Erhalt der Bäume und des Radweges neben der A4 zu protestieren, findet am 13.4. eine Raddemo statt. Diese wird von einem breiten Bündnis verschiedenster Initiativen organisiert und unterstützt und führt an den geplanten Tatorten vorbei.

Wenn der Hausverstand zu kurz denkt

Politisch Verantwortliche bringen oft den Hausverstand ins Spiel, wenn sie sich von der Bevölkerung Zustimmung erhoffen, die von wissenschaftlicher Seite nicht gegeben ist. Bei Straßenbauprojekten wird es dann gerne so dargestellt, als ob weitere Fahrspuren oder gar komplett neue große Straßen zur Entlastung bestehender Straßen führen. Kurzfristig stimmt das sogar. Vom Danach sprechen politisch Verantwortliche aber ungern. Denn so, wie der Hausverstand zum Schluss kommt, dass der Verkehr auf Straßen, deren Verkehrsbelastung auf mehr Spuren verteilt wird, flüssiger wird, kommt der Hausverstand auch zum Schluss, dass diese Straßen dadurch für Autofahrende attraktiver werden. Darum ziehen neue Straßen Autoverkehr an und nach einer gewissen Zeit ist wieder alles beim Alten.

Das Angebot macht den Verkehr

Dieses Phänomen wird induzierter Verkehr genannt: Mehr Angebot an Infrastruktur führt zu mehr Verkehr. Das funktioniert auch umgekehrt: Weniger Angebot führt zu weniger Verkehr. Das betrifft nicht nur Kfz-, sondern auch ÖPN-, Rad- und Fußverkehr.

Durch die Planung des Angebots hat es die Fortschrittskoalition in der Hand, wie der Verkehr in Zukunft aussehen soll. Durch ihre autofreundliche Verkehrspolitik untergraben SPÖ und NEOS den von ihnen mitbeschlossenen Wiener Klimafahrplan und legen der Stadt Wien bei ihren Bemühungen, ihre Klimaziele zu erreichen, große Steine in den Weg. Aber auch die Bezirke sind gefordert, Blockaden zu beenden, damit Wien eine Klimamusterstadt werden kann.

Radwegoffensive für den gewünschten Modal Split

Was von den sogenannten Mega-Radwegoffensiven zu halten ist, wurde bereits ausgeführt. Der Radverkehrsanteil von 10 Prozent sollte laut Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“ vom Mai 2013 schon 2015 erreicht werden. 2012 betrug der Anteil des Radverkehrs 6 Prozent, 2015 wurden nur 7 Prozent erreicht. Auf diesem Wert stagnierte der Anteil, bis die Corona-Pandemie dem Radfahren einen Schub gab und auf 9 Prozent hob.

Da der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bis 2030 von 26 auf 15 Prozent sinken soll, muss die Anzahl der im Umweltverbund (ÖPNV, Rad- und Fußverkehr) zurückgelegten Wege um 11 Prozent wachsen. Wie schon ausgeführt wurde, ist der ÖPNV innerstädtisch gut ausgebaut. Der Anteil des ÖPNV am Modal Split wuchs von 29 Prozent im Jahr 1993 auf 39 Prozent im Jahr 2016 und lag im Jahr 2023 bei 32 Prozent. Wie eine interaktive Grafik des ORF zeigt, beträgt der Anteil des Autoverkehrs seit 2012 um die 27 Prozent. Der Großteil der Veränderungen bestand seitdem aus Verschiebungen innerhalb des Umweltverbundes.
In einer Mobilitätsumfrage des VCÖ gaben 44 Prozent der Autofahrenden in Wien an, manchmal vom Auto abhängig zu sein, obwohl sie lieber anders unterwegs wären.

Was sagt der Hausverstand dazu?

Offensichtlich gibt es für Autofahrende kein attraktives Angebot zum Umstieg. Will die Fortschrittskoalition der Stadt Wien beim Erreichen der Klimaziele nicht nur am Papier helfen, muss sie Maßnahmen treffen, die den Autoverkehr nachhaltig reduzieren. 33 Prozent der mit dem Auto zurückgelegten Wege in Wien sind zwischen 1 und 5 Kilometer lang, 28 Prozent 5 bis 10 Kilometer lang. Für solche Distanzen ist das Fahrrad bestens geeignet – denn im Schnitt liegt der Besetzungsgrad eines Autos nur knapp über 1 und nicht mit jeder Autofahrt wird ein Kühlschrank oder Wocheneinkauf transportiert. Da die öffentlichen Verkehrsmittel bereits gut ausgebaut ist, liegt der Schlüssel in der Förderung des Radfahrens. Denn mehr Angebot an attraktiver Radinfrastruktur führt zu mehr Radverkehr. Attraktiv wird Radinfrastruktur durch sichere direkte durchgängige Radwege. Den Mangel an diesen gilt es rasch zu beheben.

Die nächsten Raddemos von „Radeln For Future“

Wir helfen der Stadt Wien gerne dabei, die Verkehrswende zu schaffen und ihre Klimaziele zu erreichen. Darum werden wir die politisch Verantwortlichen im Rathaus und den Bezirken auch weiterhin regelmäßig an ihre Versprechen und Beschlüsse erinnern.

Am 5. April 2024 radeln wir gemeinsam mit 3 Initiativen durch Ottakring und Hernals. Der „Sandleitner Radausflug“, die „Initiative Fahrradstraße 16/17“ und der „Bici-Bus Hernals“ setzen sich für mehr Fahrradinfrastruktur in den beiden Bezirken ein.

Als Abschluss der Runde durch Ottakring und Hernals wird der Gürtel zwischen Burggasse und Spittelau beradelt – ein kleiner Vorgeschmack auf den diesjährigen Gürtel Bike Ride, mit dem am 3. Mai 2024 ein Radschnellweg entlang des gesamten Gürtels gefordert wird und der 2023 laut Auskunft der Polizei mit bis zu 1.200 Teilnehmenden die bisher größte Demo von „Radeln For Future“ war. Von der Spittelau aus führt die Route über die Donaukanallände zurück zum Votivpark.

Treffpunkt ist wie immer um 17:00 Uhr beim Votivpark, die Abfahrt ist um 17:30 Uhr.

Wir freuen uns auch weiterhin auf euch! Radelt mit!

Weiterführende Informationen:
Radeln For Future 5.4.2024 Ankündigung
Gürtel Bike Ride 3.5.2024 Ankündigung
A4 Raddemo 13.4.2024 Ankündigung
Bici-Bus Hernals
Initiative Fahrradstraße 16/17
Sandleitner Radausflug
Einmal Gürtel und retour
Wiener Linien verzeichnen Fahrgast-Rekord (ORF, 23.1.2017)
Radwege sollen möglichst direkt verlaufen (ORF, 27.3.2024)
Rekordsumme für Radwegausbau (ORF, 20.7.2023)
Anteil der Radfahrer in Wien steigt (ORF, 22.3.2024)
Presseaussendung zum Modal Split 2023 (22.3.2024)
Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“
Rekordfördersumme des Bundes für Wien – Mittel reinvestieren! (Radlobby, 31.8.2023)
VCÖ
Das Phänomen Verkehr (Dipl.-Ing. Rudolf Pfleiderer, März 2009)
Längenverteilung von Autofahrten (Wien Energie, 9.11.2020)
Radwegoffensive 2022 (Mobilitätsagentur Wien)
Radwegoffensive 2023 (Mobilitätsagentur Wien)
Radwegoffensive 2024 (Mobilitätsagentur Wien)
Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“ (Mai 2013)
Wiener Klimafahrplan – Unser Weg zur klimagerechten Stadt (März 2022)
Koalitionsabkommen der Wiener Fortschrittskoalition (Dezember 2020)

Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“

Info: Am 23.3.2024 wurde die Analyse um den Abschnitt Nachzügler verbessern die Gesamtbilanz 2023 erweitert.


Im März 2023 wurde von Wiens Verkehrsstadträtin Ulli Sima wie schon im Jahr zuvor eine „Mega-Radwegoffensive“ vorgestellt. 50 Projekte mit mehr als 20 Kilometern wurden versprochen. Mitte Jänner 2024 veröffentlichte Sima ein Video zur Bilanz des Jahres 2023.

Ulli Sima: „2023 war ein Wahnsinnsjahr für die Radinfrastruktur. Wir haben über 30 Millionen Euro ausgegeben, über 50 Projekte umgesetzt und in Summe mehr als 20 Kilometer Radinfrastruktur baulich errichtet.“ – wirklich? Zeit für einen Reality Check!

Schon kurz zuvor – am 10. Jänner 2024 – starteten wir einen Thread, in dem sich ein interessanter Dialog mit dem Account der Mobilitätsagentur @fahrradwien ergab.

Wir haben dabei gelernt, dass nicht nur fertig gebaute Projekte, sondern auch begonnene zur Jahresbilanz gezählt werden, die am 15. Jänner mit dem Titel „Bilanz: 2023 errichtete die Stadt Wien 20 km neue Radinfrastruktur“ veröffentlicht wurde. Diese schwammige Zuordnung war Anlass für eine schnelle Umfrage auf Twitter, die zeigt, dass diese Art der Bilanzierung nicht mehrheitsfähig ist.

Die Schlagzeile wird zwar schon im 2. Satz des Blogposts mit „Bei 53 Projekten wurden der Bau zumindest begonnen, viele sind bereits fertiggestellt“ relativiert, Medien übernehmen aber oft nur die Schlagzeile.

Radverkehrsanlagen, Sima und Medien

So gut wie immer wird jegliche Verkehrsfläche, die für Radfahrende gedacht ist, als Radweg bezeichnet. Vor allem Verkehrsstadträtin Sima sollte es besser wissen und flapsige Formulierungen bleiben lassen. „Wir bauen 20 Kilometer Radwege“ geht natürlich leichter über die Lippen als „Wir bauen neue Radwege, Geh- und Radwege, fahrradfreundliche und Fahrradstraßen und Mehrzweckstreifen, öffnen Einbahnen und Busspuren und verbessern den Bestand auf insgesamt 20 Kilometern“, aber durch die verkürzte Darstellung wird ein falsches Bild transportiert. Die Medien sind daher gefordert, kritischer zu berichten und Presseaussendungen und Aussagen Verantwortlicher zu überprüfen, anstatt sie einfach zu übernehmen.
Einen Überblick über alle Arten von Radverkehrsanlagen gibt es auf der Website der Stadt Wien.

Wie viele Projekte und Kilometer wurden 2023 tatsächlich umgesetzt?

Zur Beurteilung werden das auf wien.gv.at veröffentlichte „Bauprogramm Radverkehrsanlagen 2023“ (Stand 10.1.2024), die von der Mobilitätsagentur veröffentlichte Bilanz 2023 (15.1.2024) und der tatsächliche Zustand der Projekte herangezogen – ist der Status „fertiggestellt“ oder „baulich fertig, Bodenmarkierungen fehlen“, dann wird das jeweilige Projekt in unserer Bilanz berücksichtigt. Ist die Anlage noch eine Baustelle oder noch nicht mal das, hat sie in einer Jahresbilanz nichts verloren.
2 Beispiele: Beim verbreiterten Radweg in der Praterstraße fehlen seit Monaten nur noch Bodenmarkierungen, die Anlage wird aber bereits rege benützt – darum wird der Radweg trotz des Baustellencharakters in unsere Jahresbilanz fertiger Projekte der Kategorie „Bestandsverbessung“ aufgenommen. Der 3. Abschnitt des Radwegs in der Krottenbachstraße ist auch schon markiert, ausgeschildert und benützbar, obwohl er noch den Status in Bau hat, und gilt in unserer Bilanz als fertiger Neubau.

Im Laufe des Jahres 2023 gab es einige Änderungen im Bauprogramm: Von 50 im März 2023 angekündigten Projekten haben es 9 nicht in die Bilanz der Mobilitätsagentur geschafft, 4 wurden zu 2 zusammengelegt, 1 wurde auf 3 geteilt, 11 kamen neu dazu und 2 weitere, die schon im Bauprogramm 2022 angekündigt wurden, wurden zusätzlich in die Bilanz 2023 aufgenommen. So kommt die offizielle Bilanz auf 53 Projekte mit 20.248 Metern Länge.

Für unsere Analyse wurden die teils großzügigen Längenangaben aus der offiziellen Bilanz übernommen, bei einem Projekt wurde allerdings eine Korrektur vorgenommen:
„Schottenring von Schottengasse bis Heßgasse“, 20 statt 97 Meter, da die angekündigte Verlegung des Radweges in die Nebenfahrbahn nicht umgesetzt wurde.
Die Gesamtlänge der für die Bilanz 2023 berücksichtigen Radverkehrsanlagen reduziert sich damit auf 20.171 Meter.

53 Projekte, davon 35 fertig

Von 53 Projekten in der offiziellen Bilanz können 35 als fertig gewertet werden. Diese 66 Prozent liegen über dem Wert der fertigen sicheren Radverkehrsanlagen gemessen an deren Länge. Das ist wenig überraschend, da Bestandsverbesserungen oft mit kleineren baulichen Maßnahmen auskommen. Für eine fahrradfreundliche Straße reichen z. B. schon ein paar Bodenmarkierungen und mit ein paar Verkehrszeichen wird eine Fahrradstraße daraus.

Aber auch sichere Radwege sind mit kleinen baulichen Maßnahmen umsetzbar. Oft würde es reichen, eine Fahr- oder Parkspur mit Betonleitschienen oder Pollern vom Kfz-Verkehr abzutrennen. Andere Städte machen es vor, nur in Wien setzt die Verkehrsstadträtin ausschließlich auf den Goldstandard. Die Klimakrise erfordert schnelle und ressourcenschonende Maßnahmen. Warum also Straßen aufreißen und mit viel zeitlichem und finanziellem Aufwand Radwege bauen, wenn es auch schneller und billiger ginge?

Vor allem würde eine solche Vorgehensweise Ulli Simas größtes Problem lösen: Sie betont regelmäßig, dass das Tempo des Ausbaus der Radverkehrsanlagen durch einen Mangel an Baukapazitäten gebremst wird. Offenbar mangelt es aber auch am Willen, die Verkehrswende voranzutreiben.

Bilanz Bauprogramm 2023: 8,1 Kilometer sichere Radinfrastruktur

Sichere Infrastruktur, also Radwege und Geh- und Radwege, machen in der Bilanz insgesamt 16.614 Meter aus – davon sind 9.408 Meter Neubauten in Straßen, in denen bisher keine Radverkehrsanlage vorhanden war. Zum Zeitpunkt der Bilanzierung waren allerdings erst 8.155 Meter fertiggestellt, davon sind 4.082 Meter Neubauten. Die Bestandsverbesserungen in der Kategorie sicherer Infrastruktur machen 4.073 Meter aus.

Als Bestandsverbesserung gilt der Umbau bestehender Radverkehrsanlagen in sicherere Anlagearten, z. B. ein Upgrade von einem Mehrzweckstreifen auf einen Einrichtungsradweg, aber auch eine Verbesserung innerhalb derselben Anlageart – das kann z. B. durch die Verbreiterung eines bestehenden Radweges der Fall sein.

Über alle Anlagearten verteilt wurden von 20.171 in die offizielle Bilanz aufgenommenen Metern erst 10.386 Meter fertiggestellt – also nur rund 51 Prozent.

Mehr Transparenz zeigt unklare Zuordnungen

Positiv zu vermerken ist, dass die Bilanz des Jahres 2023 auch als Liste mit den zur Bilanz gezählten Projekten inklusive deren jeweiliger Längen veröffentlicht wurde. Das schafft mehr Transparenz, wodurch im Vergleich zu den Vorjahren ersichtlich wurde, wie großzügig Ulli Simas Ressort Projekte zuordnet.

Diese Transparenz zeigt aber auch, wie unklar die Zuordnungen zu den Jahresbilanzen sind. 2 Beispiele dafür:
Der 1. Abschnitt des Radwegs in der Krottenbachstraße wird in der offiziellen Jahresbilanz 2023 mit 386 Metern gelistet, wurde aber bereits für 2022 angekündigt und wird im Bauprogramm Radverkehrsanlagen 2022 als fertiggestellt angeführt. Wurde dieses Projekt doppelt gezählt? Mangels veröffentlichter Liste zur offiziellen Bilanz 2022 bleibt das unklar.
Der Lückenschluss in der Herndlgasse wird wiederum in der offiziellen Jahresbilanz 2023 mit 540 Metern berücksichtigt, obwohl selbst Ende Februar 2024 noch keine Bautätigkeit statt fand. Auf Nachfrage informierte die Mobilitätsagentur, dass dort Bauvorarbeiten durchgeführt wurden.

Unklarheiten wie diese werden sich erst im Laufe der Jahre mit voller Transparenz auflösen.

Andere Unklarheiten haben sich geklärt: Z. B. werden beidseitig errichtete Einrichtungsradwege als eigenständige Anlagen gezählt. So können am Rennbahnweg auf 935 Meter Länge gleich 1.870 Meter neue Radwege entstehen. In unserer Bilanz werden sie allerdings nicht berücksichtigt, da sie noch in Bau sind. Diese Berechnungsart ist zum Teil nachvollziehbar, andererseits wird der Autobahnzubringer „Stadtstraße“ auch nur als „3,2 Kilometer lange Gemeindestraße“ bezeichnet, obwohl die Fahrtrichtungen baulich getrennt sind und beim Anlegen des gleichen Maßstabs als 6,4 Kilometer gelten müssten.

Besser als 2022, aber immer noch zu wenig

Es wäre wünschenswert, wenn die Planung des Bauprogrammes zukünftig realistischer wird und die Fertigstellungsquote der für das Kalenderjahr geplanten Projekte sich 100 Prozent nähert. Auch die vielen Änderungen in der Liste seit der Präsentation zeigen, dass es sich dabei mehr um eine Absichtserklärung als einen Plan handelte. In der offiziellen Bilanz sollten nur fertige Projekte berücksichtigt werden. Das wäre ein Anreiz, angekündigte Projekte auch noch im selben Jahr abzuschließen.

Die Transparenz kann noch gesteigert werden, indem die Finanzierung offen gelegt wird. Von den kommunizierten 30-35 Millionen Euro, die für den Ausbau der Radverkehrsanlagen veranschlagt werden, kommt der Großteil vom Bund und nicht der Stadt Wien. Interessant wäre z. B., ob Projekte wie der Neubau des Kagraner Steges voll dem Radbudget zugeordnet werden.

Die Zahlen in übersichtlicher Form

Im vorangegangenen Text kommen viele Zahlen in unterschiedlichen Zusammenhängen vor. Eine Tabelle erübrigt weitere Worte zu einzelnen Kategorien.

Basierend auf den in der offiziellen Bilanz angegebenen Längen – abzüglich zuviel verrechneter 77 Meter am Schottenring – ergeben sich die folgenden Werte für die verschiedenen Arten von Radverkehrsanlagen:

Radwege
14.188 m
Neubau
8.575 m
fertig3.249 m
in Bau5.326 m
Bestandsverbesserung
5.613 m
fertig2.985 m
in Bau2.628 m
Geh- und Radwege
2.426 m
Neubau
833 m
fertig833 m
in Bau
Bestandsverbesserung
1.593 m
fertig1.088 m
in Bau505 m
Radfahren gegen die Einbahn
693 m
Neubau
451 m
fertig451 m
in Bau
Bestandsverbesserung
242 m
fertig242 m
in Bau
Fahrradstraße
2.067 m
Neubau
92 m
fertig92 m
in Bau
Bestandsverbesserung
1.975 m
fertig649 m
in Bau1.326 m
Fahrradfreundliche Straße
430 m
Neubau
fertig
in Bau
Bestandsverbesserung
430 m
fertig430 m
in Bau
Mehrzweckstreifen/
Radfahrstreifen
363 m
Neubau
363 m
fertig363 m
in Bau
Bestandsverbesserung
fertig
in Bau
Sonstiges
4 m
Neubau
fertig
in Bau
Bestandsverbesserung
4 m
fertig4 m
in Bau
Gesamt
20.171 m
Neubau
10.314 m
fertig4.988 m
in Bau5.326 m
Bestandsverbesserung
9.857 m
fertig5.938 m
in Bau4.459 m

Nachzügler verbessern die Gesamtbilanz 2023

Der bisherige Teil der Analyse bezieht sich nur auf das veröffentlichte „Bauprogramm Radverkehrsanlagen 2023“ und die offizielle Jahresbilanz. Es gab aber nicht erst 2023 Projekte, die nicht im Jahr der Ankündigung fertiggestellt wurden. Zur Gesamtbilanz 2023 müssen auch jene gezählt werden, die es in unserer Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2022“ nicht in die Jahresbilanz 2022 geschafft haben, weil sie erst 2023 fertiggestellt wurden. Die Werte des Bauprogramms 2023 werden somit um 4.320 Meter an Radwegen und 180 Meter an Geh- und Radwegen ergänzt, davon 3.640 Meter Bestandsverbesserungen.

2023 wurde sichere Infrastruktur mit 12.655 Metern Länge fertiggestellt. Davon erschlossen 4.942 Meter Strecken, auf denen bisher keine Radverkehrsanlagen vorhanden waren, 7.713 Meter waren Bestandsverbesserungen.

Die Längen der erst 2023 fertiggestellten Projekte des Bauprogramms 2022 wurden durch eigene Messungen im Stadtplan ermittelt und ergeben die folgenden Werte für die verschiedenen Arten von Radverkehrsanlagen:

Radwege
4.320 m
Neubau
680 m
Bestandsverbesserung
3.640 m
Geh- und Radwege
180 m
Neubau
180 m
Bestandsverbesserung

Radfahren gegen die Einbahn
510 m
Neubau
510 m
Bestandsverbesserung

Fahrradstraße
350 m
Neubau
350 m
Bestandsverbesserung
Fahrradfreundliche Straße
1.490 m
Neubau
1.490 m
Bestandsverbesserung
Radfahren auf Busspuren
750 m
Neubau
750 m
Bestandsverbesserung
Gesamt
7.600 m
Neubau
3.960 m
Bestandsverbesserung
3.640 m

12,7 Kilometer (Geh- und) Radwege pro Jahr sind nicht genug

Für Projekte, die nur aus Farbe und/oder Verkehrszeichen bestehen, ist der Begriff Infrastruktur zu hoch gegriffen. Inklusive dieser unsicheren – baulich nicht getrennten – Radverkehrsanlagen wurden 2023 Projekte in der Länge von insgesamt 18.526 Metern fertiggestellt.

Der korrigierte Titel der offiziellen Bilanz müsste daher lauten:
Bilanz: 2023 errichtete und verbesserte die Stadt Wien 18,5 km Radverkehrsanlagen

Unter dem Begriff „Mega-Radwegoffensive“ darf nur sichere Infrastruktur gezählt werden. Von der groß angekündigten „Mega-Radwegoffensive 2023“ bleiben nur 8,1 Kilometer an fertiggestellter sicherer Infrastruktur übrig – davon 4,1 Kilometer auf neuen Strecken. Mit erst 2023 fertiggestellten Projekten der „Mega-Radwegoffensive 2022“ erhöht sich die Länge zwar auf knappe 12,7 Kilometer, von denen aber nur knapp unter 5 Kilometer neue Strecken erschließen.

Mega? Kaum. Offensive? Auch nicht. Fahrradhauptstadt? Garantiert nicht.

Ausblick: Der Weg zur Fahrradhauptstadt

Ein wichtiges Ziel für die weitere Arbeit ist die Erschließung neuer Zielgruppen, also Bevölkerungsgruppen zum Radfahren zu bringen, die bis dato im Wiener Radverkehr unterrepräsentiert waren.

Das Wiener Rad-Manifest, 2013

Die Erhöhung des Radverkehrsanteils ist ein Schritt am Weg zur Klimamusterstadt. 2013 wurden das Ziel ausgegeben, dass der Radverkehrsanteil von 5 Prozent im Jahr 2010 bis 2015 auf 10 Prozent verdoppelt werden soll. Dieser Wert wurde auch 2021 noch nicht erreicht.
Update: Am 22.3.2024 wurde der Modal Split 2023 veröffentlicht, in dem der Radverkehrsanteil mit 10 Prozent angegeben wird.

Im Jahr 2013 beschloss die Wiener SPÖ gemeinsam mit den Grünen den Grundsatzbeschluss Radfahren in Wien und die Stadt Wien veröffentlichte Das Wiener Rad-Manifest. 10 Jahre später wird es höchste Zeit, die schönen Worte von damals endlich umzusetzen.

Wie schon 2022 wurden auch 2023 einige wichtige Projekte begonnen, aber ein großer Teil bestand lediglich aus Verbesserungen bestehender Radverkehrsanlagen. Wichtiger als an vielen Stellen kurze Radwegabschnitte zu errichten ist die Schaffung eines echten Radwegenetzes mit langen durchgängigen Radwegen, um möglichst vielen Menschen die Benützung des Fahrrads im Alltag zu ermöglichen. Für Kinder oder auch Ungeübte stellt jede Lücke in der Infrastruktur ein Hindernis und eine Einschränkung der Mobilitätsfreiheit dar. Sobald solche Hindernisse beseitigt werden und das Wiener Radwegnetz diesem Namen gerecht wird, wird der Radverkehrsanteil deutlich ansteigen.

Politik für die Verkehrswende statt schöner Worte

Die Anschaffung und die Erhaltung eines Autos ist teuer. Nicht alle dürfen Autos lenken. Autoverkehr verursacht Schäden an Klima, Umwelt und Gesundheit. Autos nehmen gemessen am Nutzen unverhältnismäßig viel öffentlichen Raum ein. Die Verkehrswende steht für soziale Gerechtigkeit und erhöht die Lebensqualität. Daher heißt es frei nach Ulli Sima: „Nicht alle können mit dem Auto fahren!“

Dessen ist sich die SPÖ bewusst und präsentiert seit Jahren bzw. teils Jahrzehnten Pläne, den Autoverkehr zu reduzieren und den Radverkehr zu fördern. Um die eigenen Ziele zu erreichen, reicht es aber nicht, statt der Umsetzung der großen Pläne nur ein paar Schauprojekte zu bauen und zu plakatieren, dass Wien Fahrradhauptstadt ist.

Damit Wien zur Fahrradhauptstadt wird, muss noch viel passieren. Die Stadt bietet bereits Radfahrkurse für Kinder und Erwachsene an, um mehr Menschen zum Radfahren zu motivieren. Das ist eine wichtige Initiative, es fehlen aber die Radwege, auf denen Ungeübte im Alltag radeln können. Kinder der 4. Schulstufe dürfen die freiwillige Radfahrprüfung ablegen und danach auch unbegleitet am Verkehr teilnehmen. Nur 5 Prozent der Eltern von Kindern im Alter von 6-10 schätzen das unbegleitete Radfahren als sicher ein, weitere 13 Prozent als eher sicher.

Wie alltagstaugliche Infrastruktur aussieht, zeigt Utrecht, das weltweit die wahre Fahrradhauptstadt sein dürfte. Paris war bis vor ein paar Jahren mit Wien vergleichbar und kann inzwischen als Vorbild bezüglich der Geschwindigkeit des Umbaus von der Autostadt zur Fahrradstadt dienen. Paris gab Ende 2021 bekannt, bis 2026 250 Millionen Euro in den Ausbau von Radinfrastruktur zu investieren, womit u. a. 182 Kilometer baulich getrennte Radwege errichten werden, wovon 130 Kilometer komplett neu und 52 Kilometer die Aufwertung bestehender Pop-up-Radwege sein werden. Paris hat aber nur rund 270.000 Einwohner mehr als Wien.

Die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ muss sich an Städten wie Utrecht und Paris orientieren, anstatt die wenig ambitionierte eigene Politik schönzureden.

Quellen und weiterführende Informationen:
Bauprogramm Radverkehrsanlagen – aktuell
Bauprogramm Radverkehrsanlagen – 2023
Bauprogramm Radverkehrsanlagen – 2022
Radwegoffensive 2023
Bilanz: 2023 errichtete die Stadt Wien 20 km neue Radinfrastruktur
Offizielle Bilanz 2023 als Liste
Presseaussendung zur Bilanz 2022
#radliebewien: Bilanz 2022
Hauptradverkehrsnetz Wien
Grundsatzbeschluss Radfahren in Wien
Das Wiener Rad-Manifest
Mobilitätsreport 2019
Freiwillige Radfahrprüfung
Inside the New Plan to Make Paris ‚100% Cyclable‘
Utrecht – planning for people, not for cars
Anteil der Radfahrer in Wien steigt

Einmal Gürtel und retour

Die Stadt Wien hat sich große Ziele gesetzt. Mit den bisherigen Scheinmaßnahmen wird sie diese nicht erreichen. Das Gelingen der Verkehrswende ist von einem praxistauglichen dichten und durchgängigen Radwegenetz abhängig.

Der Gürtel ist eine der wichtigsten Verkehrsadern Wiens. Die Wiener Stadtregierung hat sich das Ziel gesetzt, den Autoverkehr drastisch zu reduzieren. Trotzdem gibt es am Gürtel teils 8 Fahrspuren für den Kfz-Verkehr, während sich Zufußgehende und Radfahrende meist auf gemeinsam genutzten Flächen drängen müssen.
Dabei beginnt eine Fahrt über den Gürtelradweg vielversprechend – zumindest von St. Marx kommend. Am Landstraßer Gürtel, direkt neben dem Stadtentwicklungsgebiet Aspanggründe, sind Geh- und Radweg sanft aber klar getrennt und für den aktuellen Bedarf ausreichend breit.

Gürtelradweg am Landstraßer Gürtel
Gürtelradweg am Landstraßer Gürtel

Der erfreuliche Beginn führt aber schon nach nur 500 Metern in eine Nebenfahrbahn und mündet knapp zwei Häuserblocks weiter in die Hauptfahrbahn des Landstraßer Gürtels. Nach 500 Metern im Mischverkehr können Radfahrende mit der Fortsetzung des Radwegs wieder Hoffnung schöpfen – allerdings nur kurz, denn nach zwei Häuserblocks endet der Gürtelradweg abermals in der Hauptfahrbahn.

Nur jene, die in die Argentinierstraße oder zum Hauptbahnhof müssen, dürfen ihre Fahrt auf Radwegen fortsetzen. Für alle anderen folgt eine rund 2 Kilometer lange Durststrecke auf der Hauptfahrbahn des Gürtels, bis beim Herweghpark der durchgängige Abschnitt des Gürtelradwegs beginnt. Weniger Mutige müssen die Lücke bis zum Beginn der von den Fahrbahnen baulich getrennten Infrastruktur mit der Ausweichroute durch Neben- und Parallelgassen mit weniger Kfz-Verkehr überbrücken. Bei dieser alternativen Radroute, die zum größten Teil aus für den Radverkehr geöffneten Einbahnen besteht, ist Ortskenntnis von Vorteil.

Sobald der Herweghpark erreicht ist, kommen Radfahrende knapp 7 Kilometer weit einigermaßen sicher bis zur Nußdorfer Straße. Abschnittsweise gleicht die Strecke aber einem Hindernisparcour und ist großteils nur als gemeinsam zu nutzender Geh- und Radweg ausgeführt. Schon der Beginn in Margareten zeigt sich eher schmal bemessen und bereits nach 170 Metern kommt die erste Schikane. Anstatt einer direkten Führung des Radweges wird er in U-Form und über eine Verkehrsinsel geführt. Statt einer Ampel sind zwei zu passieren.

Mehr Platz für ein faires Miteinander

Hanna Schwarz von „Geht.Doch Wien“ sagt über den Gürtel: „Die Situation für aktive Mobilität ist beengt. Viele Radfahrende, viele Fußgängerinnen. Auf einem gemeinsam geführten Mehrzweckstreifen. Das führt zu vorprogrammierten Konflikten und ist nicht ideal. Will man aktive Mobilität fördern, braucht es mehr Platz für getrennte Radwege und Fußwege.“

Ein Blick auf den Gaudenzdorfer und Gumpendorfer Gürtel bestätigt das. Die Ausführung als gemeinsamer Geh- und Radweg ist besonders in den Kreuzungsbereichen Ursache für Konfliktsituationen. Am Knotenpunkt zwischen Gürtel und Wienzeile wird der Autoverkehr zuungunsten des Fuß- und Radverkehrs bevorzugt. Während Autofahrende die Stelle rasch passieren können, werden Zufußgehende und Radfahrende über Verkehrsinseln und sich kreuzende Wege geleitet. Statt die Linke Wienzeile in einem Zug überqueren zu können, müssen mehrere Ampelphasen abgewartet werden.

Geduldsprobe am Europaplatz

Das nächste Teilstück bis zum Westbahnhof besteht am Gumpendorfer Gürtel aus einem schmalen Geh- und Radweg, am Mariahilfer Gürtel aus einem schmalen Radweg. Der Westbahnhof ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Fuß- und Radverkehr werden hier jedoch besonders benachteiligt behandelt.

Ein Video des Alltagsradlers und Filmemachers Daniel Bleninger demonstriert das eindrucksvoll. Seitens der Mobilitätsagentur Wien wurde von Martin Blum bereits 2014 eine Verbesserung der Situation am Westbahnhof angekündigt. Geschehen ist bisher allerdings nichts.

Vergleich des normalen Radweges mit der direkten Fahrt entlang des Neubaugürtels während einer „Critical Mass“.

Über den Urban-Loritz-Platz scheint ein schmaler Einrichtungsradweg zu führen. Der Eindruck täuscht aber, denn es handelt sich dabei um einen Zweirichtungsradweg. Als ob das bei Gegenverkehr nicht herausfordernd genug wäre, hat die Stadt als Schikane einen Baum gepflanzt, um dessen Baumscheibe sich der Radweg für einige Meter teilt.

Zwischen der Hauptbibliothek und der Volksoper sorgen Seitenwechsel dafür, dass keine Langeweile aufkommt, und rote Wellen geben ausreichend Gelegenheit, um im Kopf die Einkaufsliste durchzugehen.

Gegen Ende der Tour über den Gürtelradweg kommen zwei Stellen, an denen 2022 Verbesserungen umgesetzt wurden. Knapp nach der Volksoper wurde die beengte Situation am Währinger Gürtel durch einen Bypass von etwa 300 Metern Länge entschärft. In Döbling führt der Gürtelradweg nun zuerst durch eine Fahrradstraße und dann über einen Geh- und Radweg, bevor er im Mischverkehr endet. Wie in Margareten fehlt auch in Döbling die anschließende Radinfrastruktur.

Am Gürtel ist genug Platz, man muss ihn nur anders verteilen

Die Anzahl radelnder Kinder und Familien ist ein guter Indikator für die Qualität von Radinfrastruktur. Obwohl der Gürtelradweg eine wichtige Alltagsverbindung darstellt, wird er nur von wenigen Kindern benützt. Das Radfahren am Gürtel ist schon für Erwachsene eine mühsame Angelegenheit. Ungleich schwieriger gestaltet es sich für Kinder und Familien.
Florian Klein, Organisator der „Kidical Mass“: „Der Gürtelradweg ist alles andere als kinderfreundlich. Besonders die Kreuzungssituationen sind für Kinder (und Erwachsene) sehr gefährlich. Hinzu kommt die schlangenlinienförmige Routenführung, die es Kindern nicht leichter macht, sich am Radweg sicher zu bewegen. Auch die fehlende Mittelmarkierung und der Fußverkehr erschweren Kindern die sichere Fahrt.“

Sein Fazit zur Situation am Gürtel: „Am Gürtel ist genug Platz für eine gute, (kinder-)sichere Radinfrastruktur, man muss ihn nur anders verteilen.“ Ergänzend sagt Klein: „Der Gürtel ist natürlich nicht das einzige ‚Sorgenkind‘ im Wiener Radverkehr. Das fehlende Netz an Radwegen macht es Familien kaum möglich, ihre Ziele in Wien sicher mit dem Rad zu erreichen.“

Damit sich das ändert, organisiert Klein seit 2018 Fahrraddemonstrationen namens „Kidical Mass“. Diese familientaugliche Version der „Critical Mass“ findet österreichweit in einigen Städten statt. Die nächsten Termine in Wien sind am 6.5. und 3.6.2023 – demonstriert wird u. a. für kindgerechte sichere Radinfrastruktur. Davon profitieren auch Erwachsene, die Alltagswege derzeit nicht radelnd zurücklegen, weil ihnen das Radfahren im Mischverkehr zu gefährlich ist.

Wer autofreie Stadtteile will, muss Radwege bauen

Zurück zum Stadtenwicklungsgebiet Aspanggründe. Bis zum Jahr 2026 sollen dort 3.100 geplanten Wohnungen fertiggestellt werden. Der neue Stadtteil wurde als weitgehend autofrei geplant. Nimmt die Stadt ihre Klimaziele ernst, würde das bedeuteten, dass nicht nur das Wohngebiet frei von Autoverkehr ist, sondern auch die An- und Abreise autofrei erfolgt. Das ist derzeit allerdings gar nicht so leicht möglich. In angenehmer Fußgehreichweite sind die Aspanggründe derzeit nur durch die S-Bahn-Station „St. Marx“ ans hochrangige öffentliche Verkehrsnetz angeschlossen. Aufgrund der Nähe zum Stadtzentrum und dem Hauptbahnhof kann dem Fahrrad eine große Rolle als Alltagsverkehrsmittel zukommen, auch wenn es nur der Überbrückung der „letzten Meile“ dienen mag. Die Stationen „Hauptbahnhof“, „Schlachthausgasse“ und „Stadtpark“ der U-Bahn-Linien U1, U3 und U4 liegen 1-2 Kilometer von den Aspanggründen entfernt und wären somit gut für die klimafreundliche Kombination „Fahrrad & Öffis“ geeignet. Wären. Denn aktuell ist nur der Hauptbahnhof über einen sicheren Radweg erreichbar. Weder die Schlachthausgasse noch der Rennweg verfügen über Radinfrastruktur. Ein Radweg in der Schlachthausgasse wäre nicht nur eine Verbindung zur U3, sondern auch mit der sicheren Radroute am Donaukanal, im Prater und weiter bis zur Donauinsel und in die Donaustadt. Ein Lückenschluss von rund 1,3 Kilometer Länge, der einen großen Unterschied macht.

Schöne Worte sind nicht genug

Die Wiener Stadtregierung hat sich das Ziel gesetzt, den Autoverkehr in den nächsten Jahren drastisch zu reduzieren. 2022 wurden 26 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt. Bis 2025 soll dieser Anteil auf 20 Prozent sinken. Das wird nur gelingen, wenn rasch attraktive Alternativen zum Autofahren geschaffen werden. Da der öffentliche Verkehr innerhalb des Gürtels bereits recht gut ausgebaut ist, bleibt der Radverkehr der größte Hebel, dieses Ziel zu erreichen. Abgesehen vom Gürtel braucht es selbstverständlich auch auf allen daran anschließenden Hauptstraßen Radwege. Die fehlen derzeit nämlich großteils. Das ist aber eine andere Geschichte.

Der Gürtelradweg als Aneinanderreihung verschiedenster Problemstellen ist alles andere als attraktiv. Er wird benutzt, weil die Alternative noch abschreckender sind: Das Radfahren im Mischverkehr mit Kfz. Das Potenzial des Gürtels für den Radverkehr wird bei Weitem nicht voll ausgeschöpft. Der Gürtelradweg muss daher zum Gürtel-Radschnellweg werden: Breit, durchgängig, direkt und mit einer Minimierung der Konfliktstellen mit dem Fußverkehr. Am Hernalser Gürtel befindet sich ein vorbildlicher Abschnitt. Auf einer Länge von 500 Metern ist der Gürtelradweg dort als großzügig breiter Radweg ausgeführt. Diese Qualität ist auf den vollen 11 Kilometern des Gürtels wünschenswert.

Radschnellweg ist zugleich Blaulichtspur

Die einfachste und am schnellsten realisierbare Möglichkeit, dies zu erreichen, stellt das Abtrennen der jeweils inneren Kfz-Fahrspur dar. Diese Variante erleichtert nicht nur Radfahrenden und Zufußgehenden den Alltag, sondern auch Blaulichtorganisationen. Denn gut ausgebaute Radwege können auch von Einsatzfahrzeugen befahren werden, um schnell am für den Gürtel typischen Stau vorbeizukommen. Im Gegensatz zu Autofahrenden können Radfahrende nämlich schnell Platz machen. Gut ausgeführte Radwege retten somit nicht nur Leben Radfahrender.

Radschnellweg statt Scheinmaßnahmen

Ein Radschnellweg am Gürtel löst als Einzelmaßnahme nicht alle Probleme und wird Wien nicht zur Klimamusterstadt machen. Er wäre aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und würde zeigen, dass die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ ihre eigenen Ziele ernst nimmt.
Bisher glänzt die Stadtregierung aber vor allem durch Mini-Maßnahmen und Scheinklimaschutz. Einen Radschnellweg am Gürtel lehnen die Verantwortlichen ab: „Stadt Wien findet Gürtelradweg okay“.
Deshalb veranstalten „Radeln For Future“ und „Parents For Future“ am 5.5.2023 den von der Polizei begleiteten und abgesicherten „Gürtel Bike Ride“. Die Teilnehmenden radeln dabei auf allen Fahrbahnen von der Spittelau bis nach St. Marx und wieder retour und fordern: Radschnellweg jetzt!


Gürtel Bike Ride

Treffpunkt: Freitag, 5.5.2023, 17:00, beim Votivpark

Alle Infos

Weiterführende Informationen:

Gürtel Bike Ride
Kidical Mass
Critical Mass
Parents For Future
Wiener Klimafahrplan bis 2040
Fachkonzept Mobilität
Koalitionsprogramm „Fortschrittskoalition“
Modal Split 2022 und 2021
Stadtentwicklungsgebiet Aspanggründe
Aktivisten demonstrieren: Wie sicher ist das Radeln am Gürtel im 9. Bezirk?