Tausende verlorene Jahrzehnte

Wie lange dauert es, bis ein Baum das CO₂, das bei einem Flug von Wien nach Paris anfällt, aus der Atmosphäre filtert? Eine pauschale Antwort gibt es darauf nicht, aber um ein Gefühl für die Größenordnung zu vermitteln: Jahrzehnte. Damit ist klar, dass die Rodung von mehr als 1.200 Bäumen keine Kleinigkeit ist. Seit Herbst 2023 wird darüber berichtet, dass diese Anzahl an Bäumen neben der A4 Ostautobahn im Rahmen von deren Sanierung gerodet werden soll. Bisher gab es nur vage Ankündigungen. Das soll sich jetzt ändern.

Der 10. Juli dürfte einer der heißesten Tage des Sommers 2024 sein. Trotzdem findet sich am späteren Nachmittag nahe der Stadionbrücke eine kleine Gruppe zu einer Fahrradbesichtigung entlang der A4 Ostautobahn ein. Im Schatten der hohen Bäume entlang der Lände warten fünf Personen seitens der Asfinag, inklusive des Leiters des Projekts „A 4 Ost Autobahn: Generalsanierung Knoten Prater bis Knoten Schwechat“, Ing. Thomas Kozakow, mit E-Bikes. Das ist die erste Überraschung: Die Asfinag hat gebrandete Dienstfahrräder. Außerdem sind noch einige Personen von sechs Initiativen, die im April zur Raddemo gegen die Massenrodungen im Zusammenhang mit den Bauarbeiten geladen haben, vor Ort. Zur Erinnerung: Mehr als 1.200 Bäume sollen gerodet werden. Die bisherige öffentliche Berichterstattung über das Projekt hat darüber hinaus wenig vermittelt. Dieses Treffen soll Licht ins Dunkel bringen.

Der Verkehr auf der Erdberger Lände dröhnt so laut, dass es schwierig ist, einander zu verstehen. Nach einer kleinen Vorstellrunde verlagert sich das Geschehen darum auf den unteren Weg, näher an den Donaukanal. Der Plan, die Lärmbelastung dadurch etwas zu reduzieren, schlägt fehl. Wie es nach der Vorstellung mehrerer Personen üblich ist, sind die Namen der meisten Beteiligten zu diesem Zeitpunkt bereits wieder vergessen. Ein Mitarbeiter der Asfinag hält augenzwinkernd fest, dass in dem Bereich noch nicht die Autobahn für den Lärm verantwortlich ist. Das stimmt teils, weil sie erst 50 Meter weiter beginnt. Allerdings ziehen Straßen Verkehr an – je mehr, je größer sie sind. Darum ist die A4 im Grunde doch für den Verkehr und all seine negativen Folgen hauptverantwortlich. Aber das nur als Bemerkung am Rande.

Der Verkehr muss fließen

In der akustischen Wolke des niemals stoppenden Kfz-Flusses, aber immerhin im Schatten einer kleinen Baumgruppe, geht es dann zum ersten Mal ans Eingemachte. Das Gespräch dreht sich vor allem darum, welche Verkehrsszenarien im Vorfeld analysiert wurden und warum die Wahl auf eine Variante fiel, bei der die Beeinträchtigungen für den Autoverkehr so gering wie möglich sind, obwohl Baustellen ideale Gelegenheiten sind, um Verhaltensänderungen herbeizuführen. Verhaltensänderungen, die notwendig sind, um die klimapolitischen Ziele der Stadt Wien und der Republik Österreich zu erreichen. Die Antwort ist relativ simpel: Das ist nicht Aufgabe der Asfinag. Deren Aufgabe ist es, den Verkehr am Fließen zu halten.

Die zweispurige Führung während der Sanierung wird mit der Durchlässigkeit für Einsatzfahrzeuge begründet. Bei einer einspurigen Führung wird mit bis zu zwei Stunden Rückstau gerechnet. Zwei Spuren mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h sollen den Verkehr am Fließen halten. Den Einwurf, dass der Ausbau der A4 angesichts der voranschreitenden Klimakrise nicht zeitgemäß sei und damit indirekt Menschenleben kostet, kontert Projektleiter Kozakow mit der provokanten Frage, wie viele Menschenleben es wert sind, wenn auf eine Spur verzichtet wird und Einsatzkräfte deshalb im Stau stecken. Da das Thema etwas komplexer ist und wenig mit dem Grund des Treffens zu tun hat, wird es schnell abgehakt. Für möglicherweise notwendige Rettungsfahrten während der Sanierung bleibt zu hoffen, dass der Plan der Asfinag funktioniert. Im Falle eines Staus ist der Platz für eine Rettungsgasse durch die temporär verschmälerten Spuren nämlich deutlich geringer als auf Autobahnabschnitten ohne Baustellen. Eine andere Frage ist, wie viele Rettungseinsätze, die nichts mit Unfällen auf der Autobahn zu tun haben, über die A4 führen.

Angekündigte Megastaus finden nicht statt

Ulrich Leth, Verkehrswissenschafter an der TU Wien, bringt ein, dass Autofahrende sich nicht täglich zwei Stunden lang in den Stau stellen, sondern Alternativen suchen – sei es durch das Fahren von Umwegen oder den Wechsel des Verkehrsmittels. Laut Kozakow tritt das innerstädtische Phänomen des verpuffenden Verkehrs bei Sperren überregionaler hochrangiger Straßen aber nicht auf, weil es keine Ausweichmöglichkeiten gibt. Studien dazu sind keine bekannt und offenbar wollen es weder die Asfinag noch die Stadt Wien auf den Versuch ankommen lassen.
Der schlecht ausgebaute bundesländerübergreifende öffentliche Verkehr ist in der Tat ein Problem. Da Autobahnsanierungen aber selten überraschend notwendig sind, hätte die Politik schon längst für Alternativen sorgen müssen. Die kurzfristige Absage der Straßenbahn zwischen Simmering und Schwechat ist nur ein Beispiel dafür, dass die politisch Verantwortlichen zu oft lieber persönliche Befindlichkeiten als harte Fakten als Entscheidungsgrundlagen heranziehen.
Fakt ist, dass die Gesprächsrunde am schmalen Weg für Verkehrsbehinderungen sorgt oder vielmehr sorgen könnte. Zum Glück sind der Rad- und Fußverkehr flexibel genug, um sie durch ein, zwei Schritte zur Seite am Fließen zu halten.

Nach dem Thema Verkehr kommen erstmals die Bäume ins Spiel. Der dafür verantwortliche Mitarbeiter der Asfinag zückt eine gefaltete Karte, auf der Flächen und Einzelbäume, die zur Rodung vorgesehen sind, eingezeichnet sind. Das Projektgebiet ist so groß, dass kurz darauf eine zweite Karte aufgeklappt werden muss. Die Karten zeigen temporäre und permanente Rodungen. Auf Nachfrage wird die Übermittlung als PDF zugesagt. In der Masse an mittlerweile zugesendeten Dokumenten waren die beiden Karten allerdings leider nicht dabei oder sehr gut versteckt.

Kein Wohlfühlprogramm für Radfahrende

Nach dieser einleitenden Diskussion kommt die Besichtigung endlich in Fahrt. Aber nur kurz, denn schon nach wenigen hundert Metern folgt der erste Stopp. Unter anderem erläutert Projektleiter Kozakow welche Konsequenzen die Baustelle für den Radverkehr hat. Kurz vor der Stadionbrücke wird der Radverkehr ab Oktober 2024 bis Ende 2025 über die Erdbergstraße zum Gaswerksteg umgeleitet. Während die Beeinträchtigungen für Autofahrende möglichst gering gehalten werden, müssen Radfahrende einen Umweg in Kauf nehmen, auf dem es zu allem Überfluss großteils keine Radinfrastruktur gibt. Der Radweg auf der Erdbergstraße beginnt nämlich erst kurz vor dem Gaswerksteg. Am anderen Ende des Gaswerkstegs laufen noch die Arbeiten an einer Rampe zur Lucie-Goldner-Promenade, auf der aktuell nur zwei Fahrrillen in der Wiese vorhanden sind. Für Radfahrende und Zufußgehende wird stattdessen ein Weg mit wassergebundener Decke errichtet. Umgangssprachlich ausgedrückt: Ein Schotterweg, vergleichbar der Promenade entlang des Liesingbaches. Sowohl die Rampe als auch der Weg müssen aufgrund einer Vorgabe der Stadt Wien nach dem Ende der Sanierung wieder rückgebaut werden.

  • Temporäre Rampe vom Gaswerksteg zur Lucie-Goldner-Promenade.

Nach der Weiterfahrt taucht am anderen Ufer die Rampe auf und es ist auf den ersten Blick klar, dass es sich dabei nur um ein Provisorium handelt, das keine Chance auf Fortbestand hat. Kaum auf den Sattel gesetzt heißt es auch schon wieder absteigen. Bei diesem Stopp geht es um die ersten Bäume, die gerodet werden sollen. Kozakow erklärt, dass die Verbreiterung der Autobahn im Bereich der Böschung beginnt. Zukünftig wird der Begleitweg dort neben einer Stützmauer und teils einer deutlich kleineren Böschung verlaufen.

Der Ort der „Geburt“ entscheidet über Leben und Tod

An dieser Stelle werden die unterschiedlichen Interessen sichtbar und es bilden sich kleinere Gesprächsgruppen. Eine kehrt zum Thema Verkehr zurück, in der anderen dreht es sich um die Bäume. Die für die ökologischen Maßnahmen verantwortlichen Personen betonen, dass die Rodungen in dem Abschnitt nur die Böschung direkt neben der Autobahn betreffen. Die Böschung hinunter zum Donaukanal wird nicht beeinträchtigt. Weiters wird erklärt, dass es sich bei den gerodeten Bäumen mehrheitlich um Neophyten wie Götterbäume, Robinien und Ölweiden ohne ökologische Bedeutung handle. Insekten sehen das wohl anders, denn der gerade blühende Chinesische Götterbaum, der sich in diesem Bereich unter die Pappeln gemischt hat, dient durchaus als Nahrungsquelle. Hier zeigt sich, dass nicht nur bei Menschen die Lotterie des Geburtsortes über Glück im Leben entscheidet, sondern auch bei Bäumen. Der größte und schönste Götterbaum steht auf der Böschung, die sein Todesurteil bedeutet – jede Menge kleinere wachsen auf der anderen Seite des Weges, auf der sie unbehelligt bleiben. Grund dafür sind die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse entlang des Donaukanals: Asfinag, Stadt Wien und viadonau verfolgen bezüglich der Neophyten keine gemeinsame Strategie. Die erneute Ausbreitung des Götterbaums auf Grundstücke der Asfinag wird somit kaum zu verhindern sein.

  • Die Böschung rechts zwischen der A4 und dem Begleitweg wird gerodet und verschmälert.

Etwas abseits erhebt sich auf der Böschung zum Donaukanal eine mächtige alte Pappel. Noch, denn sie ist bereits abgestorben. Ein Mitglied des Asfinag-Teams nennt Biberverbiss als Ursache. Damit sie nicht irgendwann von einem Sturm umgeworfen wird, wäre aus Sicherheitsgründen eine Fällung angebracht. Aufgrund der verworrenen Zuständigkeiten wird das wohl noch längere Zeit nicht geschehen.
Die Situation an dieser Stelle des Donaukanals erinnert an den Umgang der Politik mit dem Klimawandel. Die meisten Länder – auch Österreich – schieben die Verantwortung von sich und haben wenig Interesse an grenzüberschreitenden Maßnahmen. So können weder der Klimawandel noch seine Folgen abgeschwächt werden. Durch dieses politische Versagen führt der Klimawandel zur Klimakrise und weiter in eine Klimakatastrophe. Aber kehren wir gedanklich zur Besichtigung am Donaukanal zurück.

Die andere Gesprächsgruppe ist inzwischen wieder beim Thema der Verkehrszählungen gelandet. Klaus Wechselberger von „Zukunft Stadtbaum“ und der „Umweltinitiative Wienerwald“ nützt die Gelegenheit, um die Lufttemperatur zu messen. Im Schatten der Baumreihe beträgt sie knapp über 35°C, zwanzig Meter weiter steigt sie ohne das schützende Blätterdach rasch deutlich an. Das wirft die Frage auf, ob zwischen der A4 und dem Begleitweg die Pflanzung einer Baumreihe angedacht ist, um für durchgehende Beschattung zu sorgen. Die Antwort ist kurz und knapp: Leider wird das nicht möglich sein, da im Zuge des Projektes neue unterirdische Einbauten errichtet werden, die einer Bepflanzung im Wege stehen.

Neue Technik für die Autobahn

Beim nächsten Stopp lichten sich endlich die Nebel der bisher bekannt gewordenen Informationen. Die gute Nachricht: Entlang des Donaukanals sollen deutlich weniger Bäume als befürchtet gerodet werden. Die schlechte Nachricht: An der Gesamtzahl der zur Rodung beantragten Bäumen ändert sich nichts.
Entgegen ersten medialen Berichten betreffen die Rodungen entlang des Donaukanals nicht die komplette Länge, sondern nur bestimmte Stellen, vornehmlich aus der ersten Reihe. Das ist sowohl eine gute als auch eine schlechte Nachricht. Denn gerade dort stehen viele Bäume, die ihre Äste schattenspendend über den Begleitweg strecken. Zumindest vormittags klappt das gut. Als Begründung für die Rodungen wird der neue Querschnitt genannt: Die Autobahn wird um ca. zwei Meter verbreitert. Seitlich erhält sie einen Streifen mit technischen Einbauten, in dem auch neue Leitungen laufen, mit deren Hilfe die Asfinag die Anlagen entlang der Autobahn möglichst energieautark betreiben will. Zusätzlich wird die Entwässerung erneuert. Aktuell fungiert der Grünstreifen neben der Autobahn als kleiner Graben, der das Wasser zu den Abflüssen leitet.

  • Über den Begleitweg ragende Äste spenden je nach Tageszeit Schatten.

Der Begleitweg soll zukünftig vier Meter breit sein. Das ist weniger als derzeit, aber aus Sicht des Fuß- und Radverkehrs vertretbar. Eine Lärmschutzwand ist nicht vorgesehen, aber im Gegensatz zur aktuellen Situation wird die Autobahn zukünftig aus Sicherheitsgründen durch einen Zaun vom Begleitweg abgetrennt. Dazu erzählt einer der Mitarbeiter die Anekdote, dass er live erlebte, wie ein Mann über die Leitplanke stieg, um ein Fast-Food-Lokal auf der anderen Seite der Autobahn zu erreichen. Fast-Food hat nicht ohne Grund den Ruf, gesundheitsschädlich zu sein. Aber er gibt auch themenspezifische Tipps: Zum Beispiel erwähnt er den online verfügbaren Wiener Baumkataster, in dem auf öffentlichem Grund wachsende Bäume vermerkt sind.
Entlang der A4 wird also viel passieren. Ob „Sanierung“ angesichts der großen Anzahl an Änderungen der richtige Ausdruck ist, ist fraglich. „Neubau im laufenden Betrieb“ trifft es womöglich eher.

Welche Bäume gerodet werden

Im ersten Abschnitt der A4 von Erdberg bis zum Schwenk in die Hochlage sind rechts des Begleitweges zwei Flächen betroffen, die komplett gerodet werden. Links vom Begleitweg wurden im Bereich der Schwemmkanäle und von Ausweichbuchten Rodungsanträge für einzelne Bäume beziehungsweise kleinere Baumgruppen gestellt. Aufgrund des Zeitpunktes der Anträge fallen diese noch unter das alte Wiener Baumschutzgesetz. Ersatzpflanzungen müssen daher im Umkreis von 300 Metern erfolgen. Nach der Novelle wären Ersatzpflanzungen innerhalb des gesamten Bezirkes möglich gewesen. Außerdem greift das Baumschutzgesetz nur bei Bäumen mit mehr als 40 Zentimeter Umfang und bestimmten Arten. So sind z. B. auch größere Kirsch- und Walnussbäume nicht geschützt. Die Zahl der tatsächlich gerodeten Bäume wird die der beantragten somit um ein Vielfaches übersteigen.

  • Baumgruppen bei Kanälen sollen gerodet werden. Rechts der Mitte steht „Baum 1086“.

Der für die Bäume zuständige Mitarbeiter erklärt lächelnd, inzwischen jeden Baum dieses Abschnitts persönlich zu kennen. Er vermittelt einen sehr engagierten Eindruck und gibt einen guten Einblick in die Vorgehensweise. Es scheint, als würden zumindest entlang des Donaukanals keine Bäume geopfert werden, die nur für die Zeit der Baustelle „im Weg stehen“, und auch Maßnahmen wie Wurzelbrücken sollen die Anzahl der hier gerodeten Bäume so gering als möglich halten. Das ist Ansichtssache, denn auch die rund 100 Bäume, die in diese Bereich insgesamt gerodet werden sollen, sind viel. Als Begründung für die Rodungen bei den Kanälen werden die Wurzeln genannt. Doch könnten die Kanäle im Rahmen der Sanierung nicht einfach näher an der Autobahn neu gebaut werden, um die Anzahl der zu rodenden Bäume zu reduzieren? Mit dem entsprechenden Willen wäre das wohl möglich. Die Erweiterung der A4 in dieser Form ist vor allem eine politische Entscheidung. Die politisch Verantwortlichen geben den Rahmen vor, in dem sich die Asfinag bewegt. Und die plant die Sanierung in dieser Form seit vier Jahren.

Im Abschnitt zwischen Donaukanal und Knoten Schwechat stellt sich die Lage anders dar. Dort verläuft die Autobahn in Hochlage und der Großteil der zur Rodung beantragten Bäume wächst auf den Böschungen. Das wilde Dickicht, das sich über Jahrzehnte gebildet hat, ist ein wertvoller Lebensraum für viele Tiere. Laut dem Team der Asfinag bildete sich der dortige Baumbestand nur, weil die Autobahnmeisterei die Pflege der Böschungen venachlässigte. Die meisten Bäume sollen zwischen 25 und 40 Jahre alt sein. Die Situation ist vergleichbar mit Bahndämmen, die eigentlich bewuchsfrei geplant sind, die ÖBB den Wildwuchs jahre- oder jahrzehntelang ignorieren und die Bevölkerung sich dann zurecht beschwert, wenn das liebgewonnene Grün irgendwann komplett entfernt wird. Im Falle der A4 entsteht eine besonders absurde Situation: Die Asfinag muss aufgrund der Bäume, die groß genug sind, nicht einfach entfernt werden zu dürfen, die Rodung von Böschungsflächen beantragen, auf denen kein Bewuchs geplant war – mangels ausreichender Grundstücke wird ein Teil der Ersatzpflanzungen aber genau auf diesen Flächen erfolgen.

Maßnahmen für die Fauna

Vor einigen Wochen wurde mit der Umsetzung ökologischer Auflagen begonnen. So wurden z. B. 40 Kästen für die sieben vor Ort vorkommenden Fledermausarten aufgehängt und kompakte Biotope für Zauneidechsen errichtet, die jeweils aus einem Totholzhaufen und einem Sandarium bestehen und eingezäunt wurden. Weiters wurde mit der Errichtung von Sperrzäunen begonnen, die das Eindringen von Zauneidechsen auf die Baustelle verhindern sollen. Nach dem Ende der Fortpflanzungsperiode werden Zauneidechsen abgesammelt und in Ersatzbiotopen ausgesetzt. Die mit GPS-Sendern ausgestatteten Fledermauskästen werden derzeit noch nicht benützt.

Der Fokus liegt zwar auf der Zauneidechse, aber es gibt im zukünftigen Baustellenbereich noch deutlich mehr zu schützende Tierarten. Klaus Wechselberger erwähnt den Großen Feuerfalter und stößt auf taube Ohren. Es wird klar: Von offizieller Seite dient die sympathische Zauneidechse als Maskottchen für die ökologischen Maßnahmen.
Für Insekten wäre es förderlich, wenn die umgeschnittenen Bäume zumindest teilweise als Totholz liegen bleiben würden. Das ist aber nicht vorgesehen und wird mit einer daraus resultierenden Überdüngung des Bodens begründet.

  • Totholzhaufen und Sandarium für Zauneidechsen. Auf der Silberpappel hängt ein Fledermauskasten.

Während Wolken aufziehen und sich die Sonne dem Horizont nähert, radelt die Gruppe zu einer bereits angelegten Ausgleichsfläche. Am Weg dorthin ist ein Mitglied des Asfinag-Teams sehr dankbar für einen Trinkwasserbrunnen. Dieses kleine Detail zeigt, wie selbstverständlich der Umgang mit Trinkwasser in Wien ist und wie sehr alles zusammen hängt. Punkto Trinkwasser ist Wien eine verwöhnte Stadt. Einerseits durch die Hochquellwasserleitungen, die noch während der Monarchie gebaut wurden, andererseits durch Grundwasserwerke. Das ermöglicht es, der Bevölkerung über unzählige Brunnen in der Stadt Trinkwasser auch unterwegs zur Verfügung zu stellen. Leider gefährdet die Liebe der drei Großparteien zum Lobautunnel die Trinkwasserversorgung Wiens auf fahrlässige Weise: Nicht nur indirekt, da durch die Folgen dieses verkehrspolitischen Irrwegs der Klimawandel vorangetrieben wird, sondern auch direkt, da die Tunnelröhren einen bedeutenden Eingriff in den Grundwasserkörper darstellen und zu allem Überfluss durch die Dichtwände und das kontaminierte Erdreich des Ölhafens Lobau führen.

Von weit ausholenden Gedanken zurück zum Geschehen vor Ort: Die Ausgleichsfläche wird über radweglose Straßen erreicht. Kein Wunder, da die Gegend wenig Potenzial für medientaugliche Eröffnungsfeiern hat. Bauzäune schirmen das Areal vor Menschen ab, Wildgitter darin gepflanzte Jungbäume vor Rehen. Ein niedriger Holzaun bildet die dritte Abschirmung, die aber nur dazu dient, umgesiedelte Zauneidechsen am Areal und von den bevorstehenden Bauarbeiten entlang der Lärmschutzwand fern zu halten. Die wird nämlich erhöht, um die Lärmbelästigung für Anwohnende zu reduzieren. In dem präsentierten Bereich wachsen nur Gehölze, die nicht gerodet, sondern auf Stock gesetzt werden. So wird das bodennahe Abschneiden genannt. Die hier wachsenden Großsträucher wie z. B. die Kirschpflaume werden danach wieder austreiben – wenn alles nach dem ökologischen Plan läuft. Dass das nicht immer klappt, zeigt der Bewuchs der Lärmschutzwand. Ursprünglich war dafür eine andere Pflanzenart geplant, durchgesetzt hat sich aber ein Neophyt. Auch das ist ein Symptom des voranschreitenden Klimawandels.

  • Die bewachsene Lärmschutzwand wird entfernt und erhöht. Die Gehölze werden auf Stock gesetzt.

Die Zeit läuft davon

Da die Zeit bereits deutlich vorangeschritten ist, verzichtet die Gruppe auf die weitere Befahrung. Während einer kurzen Verabschiedungsrunde sagt Klaus Wechselberger zu Projektleiter Thomas Kozakow noch, dass es menschlich ja passe – der Rest des Satzes bleibt unausgesprochen. Ja, menschlich passt es und das Team der Asfinag wirkt auch wirklich bemüht, die Auswirkungen des Sanierungsprojektes auf die Umwelt möglichst gering zu halten, aber persönliche Sympathie ändert nichts an der Grundproblematik. Das große Problem bleibt die politische Ignoranz der Großparteien, die Klimaschutz nur dann zulässt, wenn er nicht stört. Mit dieser Strategie bleibt Österreich Teil des globalen Problems. Das zeigt sich nicht nur bei der A4-Sanierung, die komplett anders ablaufen könnte, wenn die Politik es nicht verschlafen hätte, die Bevölkerung bundesländerübergreifend aus der Abhängigkeit vom Auto zu befreien.

Zurück zum Anfang. Warum dauert es Jahrzehnte, bis ein Baum das CO₂, das bei einem Flug von Wien nach Paris anfällt, aus der Atmosphäre filtert? Geradezu täglich werden CO₂-Emissionen in den Nachrichten in der Einheit Tonne erwähnt. Eine Tonne CO₂ entspricht ca. 272 Kilogramm Kohlenstoff, die in rund 544 Kilogramm Trockengewicht von Holz gebunden sind. Pappeln haben eine Darrdichte von 410 kg/m³, woraus sich ergibt, dass rund 1,3 Kubikmeter Holz gebildet werden müssen, um eine Tonne CO₂ aus der Atmosphäre zu filtern. Eine Tonne CO₂ entspricht ca. der Menge, die ein Direktflug von Wien nach Paris für vier Personen verursacht. Wenn sich auch der Rückflug ausgehen soll, können nur zwei Personen fliegen. Der Musterbaum, der diese Flüge kompensiert, ist die Silberpappel mit der Nummer 1086. Sie ist laut dem Wiener Baumkataster elf bis fünfzehn Meter hoch, misst 127 Zentimeter im Umfang und ist 35 Jahre alt. Wird sie gerodet und verbrannt oder kompostiert, wird der gebundene Kohlenstoff wieder freigesetzt.

Die Rodung so vieler Bäume bedeutet tausende verlorene Jahrzehnte. Denn mit den Ersatzpflanzungen beginnt die Einlagerung von Kohlenstoff wieder bei Null. Als Gesellschaft haben wir aber keine Zeit mehr, um nochmals bei Null anzufangen. Wir müssen erhalten, was zu erhalten ist. Wir müssen renaturieren, was zu renaturieren ist. Wir müssen die Blockade des Fortschritts aufgeben. Das sind wir den kommenden Generationen schuldig.
Darum bleibt die Frage aktuell: Gibt es wirklich keine Möglichkeit, die A4 ohne Rodung von mehr als 1.200 Bäumen zu sanieren, oder scheitert es am Willen?


In aller Kürze:
Für die A4-Sanierung werden mehr als 1.200 Bäume gerodet. Im Rahmen einer Besichtungsfahrt mit Mitgliedern des Projekt-Teams der Asfinag wurde geklärt, dass der Großteil dieser Rodungen entgegen den ersten medialen Berichterstattungen nicht entlang des Donaukanals stattfindet. Neben dem Begleitweg werden vereinzelt kleinere Baumgruppen gerodet, auf Böschungen direkt neben der A4 alle Bäume. Außerdem gibt es ökologische Begleitmaßnahmen zum Schutz von Zauneidechsen und Fledermäusen. Der Begleitweg, der vom Fuß- und Radverkehr benützt werden darf, wird während der Sanierung gesperrt und danach nur noch vier Meter breit sein. Die Umleitung erfolgt über die Erdbergstraße, den Gaswerksteg und die Lucie-Goldner-Promenade.

Weiterführende Informationen und Links:
1.300 Bäume müssen A4-Sanierung in Wien weichen (meinbezirk.at, 31.10.2023)
A 4 Ost Autobahn Generalsanierung Knoten Prater bis Knoten Schwechat (asfinag.at)
Wie viel Kohlendioxid (CO₂) speichert der Baum bzw. der Wald (wald.de)
Hartholz oder Weichholz? Werte zur Bestimmung und Definition (kaminholz-wissen.de)
CO₂-Rechner (co2.myclimate.org)
Wiener Baumschutzgesetz (ris.bka.gv.at, Fassung vom 1.12.2023)
Wien Umweltgut: Baumkataster (wien.gv.at)

Licht und Schatten – ein Blick auf Wiens Radwegebauprogramm

Dieser Blogpost behandelt weder die gesamte Radinfrastruktur noch das heurige Bauprogramm, sondern vor allem die Qualität der in den letzten Jahren gebauten Radwege. Stellvertretend werden ein paar Projekte und Probleme genauer betrachtet und Verbesserungsvorschläge erläutert.
Detaillierte Auswertungen der jährlichen Bauprogramme finden sich in den Blogposts „Analyse der ‚Mega-Radwegoffensive 2022‘“ und „Analyse der ‚Mega-Radwegoffensive 2023‘“.

Was die PR-Maschinerie sagt und nicht sagt

In Wien werden mehr Radwege denn je gebaut. Das betonen Ulli Sima und andere Verantwortliche gerne und sie haben damit durchaus recht. Allerdings erwähnen sie dabei nicht, dass das bisherige Niveau extrem niedrig war und der Ausbau deutlich unter den Versprechungen im Wahlkampf liegt.

Aus dem Wahlprogramm der SPÖ: „Wir setzen uns das Ziel, den Fahrradwegeanteil an der Gesamtverkehrsfläche Wiens auf 10% zu steigern. Das bedeutet: 300 km sichere Radwege auf Hauptstraßen, 50 km Fahrradstraßen errichten (bis 2025), 375 km Einbahnen für den Radverkehr öffnen (bis 2030), 110 km Radschnellverbindungen (bis 2030) sowie 72.000 Fahrradstellplätze (bis 2030) schaffen.“

Die NEOS stellten im Wahlkampf den Plan zur Errichtung eines Radschnellwegnetzes vor. Von 12 angekündigten Projekten wurden bisher nur 2 begonnen. Das größte Projekt in diesem Netz wäre die Radachse Landstraße-Simmeringer Hauptstraße gewesen. Wer dort jemals mit dem Rad unterwegs war, weiß wie wichtig die Errichtung eines Radweges dort ist.

Im Koalitionsprogramm blieben von all dem nur vage Absichtserklärungen übrig. Die einzige konkrete Aussage betrifft den Anteil der Radwege an der Gesamtverkehrsfläche: Dieser soll auf 10 Prozent gesteigert werden. Aktuell liegt er bei rund 1 Prozent.

Superlative täuschen oft über die Realität hinweg. Sehen wir uns das am Beispiel des Lieblingsprojektes von Verkehrsstadträtin Sima an. Der sogenannte „Mega-Radhighway“ verbindet die Donaustadt mit der Innenstadt. Dabei betont sie oft und gerne die Breite der erneuerten Abschnitte in der Praterstraße und der Lassallestraße. Keine Erwähnung finden die Engstellen und Umwege, wie sie am Praterstern und bei der Reichsbrücke zu finden sind.

Engstellen am „Mega-Radhighway“ bei der Reichsbrücke und am Praterstern

Bei Autobahnen würde es solche Zustände maximal während kurzer Bautätigkeiten geben, bei einem „Radhighway“ hat die Politik aber offenbar auch als Dauerzustand kein Problem damit. Derzeit sind keine Verbesserungspläne für diese Problemstellen bekannt. Eine naheliegende und schnelle Lösung wäre die Abtrennung einer Kfz-Fahrspur am Praterstern und auf der Reichsbrücke, um dem Radverkehr in diesen Abschnitten mehr Platz zu geben.

Was gut läuft

Lange vernachlässigte Projekte werden endlich angegangen. Bei deren Umsetzung wird vermehrt auf sichere Infrastruktur statt auf Mehrzweckstreifen gesetzt. Dank erhöhter Fördergelder vom Bund steht dem Radwegebau in Wien seit ein paar Jahren ein deutlich größeres Budget zur Verfügung. Das ist ein wichtiger Faktor, um den Ausbau des Radwegenetzes vorantreiben zu können.

Was besser laufen könnte

Aktuell entstehen Radwege zeit- und kostenintensiv, indem Straßen aufgerissen werden, nur um dann 10 Zentimeter höher gelegt mit einem Randstein versehen neu asphaltiert zu werden. Kostengünstiger wäre eine „Aufrüstung“ bestehender Park- oder Fahrspuren mit Pollern und kleinen Leitschwellen oder Betonleitelementen, wie sie bei Baustellen zum Einsatz kommen – so geschaffene Radwege könnten auch nicht zugeparkt werden und wären sicherer, da Autos bei Unfällen vor der Radspur gestoppt werden würden.

Viele neue Radwege werden als Zweirichtungsradweg errichtet. Hintergrund ist vermutlich der geringere Platzbedarf gegenüber einer adäquaten beidseitigen Umsetzung von Einrichtungsradwegen. Die Platzersparnis geht auf Kosten der Radfahrenden, da die errichteten Radwege oft zu schmal sind, um einer zukünftig erwartbaren Auslastung und der zunehmenden Verbreitung von Lastenrädern gerecht zu werden. Es ist also autofreundlicher Radwegebau.

Ein anderes Problem stellt die Auf- und Abfahrt auf nur einseitig vorhandene Zweirichtungsradwege dar. Da das Radwegenetz viele Lücken aufweist, beginnen solche  Zweirichtungsradwege für Radfahrende im Mischverkehr oft auf der „falschen“ Straßenseite. Um StVO-konform unterwegs zu sein, erfordern benützungspflichtige Radwege gegebenenfalls eine Blockade des Fließverkehrs, um über die Fahrspuren des Gegenverkehrs auf den Radweg auffahren zu können. Dadurch entstehen gefährliche Situationen. Eine Aufhebung der Benützungspflicht für die jeweils „falsche“ Fahrtrichtung wäre daher wünschenswert, damit die Auffahrt entweder bei einer besseren Gelegenheit erfolgen oder ausbleiben kann, wenn die Route z. B. einen Block weiter ohnehin wieder vom Verlauf des Radweges wegführt.

Was schlecht läuft

Derzeit wird beim Radwegebau in Wien eine Salamitaktik angewendet. Statt durchgängige Strecken in einem Schwung zu errichten, werden diese auf mehrere Jahre aufgeteilt. Dadurch bleiben die Teilstücke jahrelang unattraktiv und erschweren die Situation für den Radverkehr im schlimmsten Fall sogar. Ein Beispiel dafür stellt die Krottenbachstraße dar, wo der Bau des Radweges 2022 startete, 2023 an anderer Stelle fortgesetzt wurde und es aktuell nur zwei kurze benützungspflichtige Inselradwege gibt. Radfahrende, die stadteinwärts unterwegs sind, werden durch die Umsetzung als einseitiger Zweirichtungsradweg mit der zuvor beschriebenen Problematik der Auf- und Abfahrt durch den Gegenverkehr konfrontiert. Für Geübte ist das zumindest ein Ärgernis, für Ungeübte ein abschreckendes Sicherheitsrisiko.

Was hinter dieser Taktik steckt bleibt unklar. Eine mögliche Erklärung: Kürzere Teilstücke einzelner Radwege ergeben am Papier mehr Projekte pro Jahr. Bei gleicher Bauleistung pro Jahr wäre die Errichtung von weniger Projekten, die dafür längere durchgängige Strecken aufweisen, sinnvoller.

Ein weiteres Problem der Verteilung der Bauleistung auf viele Projekte ist, dass die Lücken im Radwegenetz dadurch nur langsam kleiner werden. Jede Lücke bildet eine Barriere, womit die Nützung des Radwegenetzes deulich unter seinem Potenzial bleibt.

Um auf das Beispiel der Krottenbachstraße zurückzukommen: Dieser Radweg bleibt laut aktuellem Plan auch nach der Fertigstellung des Mittelteils ein Inselradweg ohne Anschluss an einen anderen Radweg. Erst wenn die Lücken zu den bestehenden Radwegen am Donaukanal und Gürtel geschlossen sind, wird dieser Radweg sein tatsächliches Potenzial erreichen. Denn direkte durchgängige Verbindungen sind attraktiv und erhöhen den Anteil des Radverkehrs.

Was fehlt

Das Problem der fehlenden Anbindung ans Radwegenetz betrifft viele Außenbezirken. Für die westlichen Bezirke wäre es z. B. das Mindeste, alle über sichere Radwege mit dem Gürtel und darüber hinaus mit der Ringstraße zu verbinden. Der Gürtelradweg hat zwar ebenso wie der Ringradweg großen Verbesserungsbedarf, aber immerhin stellen beide sichere Radialverbindung in viele Bezirke dar. Im Westen Wiens gibt es derzeit allerdings nur eine sichere Verbindung zum Gürtel und Ring: Den Wientalradweg. Klammern wir an dieser Stelle aus, dass dieser von entfernter gelegenen Teilen Hietzings und Penzings aus nicht über Radwege erreichbar ist und betrachten nur die Anbindung an den Gürtelradweg. In Ottakring gibt es immerhin die Fahrradstraße Hasnerstraße, aber in Rudolfsheim-Fünfhaus, Hernals, Währing und Döbling führt der Weg zum Gürtel nur über Straßen ohne sichere Radinfrastruktur. Damit bleibt das Radfahren vielen Menschen verwehrt, die das Fahrrad eigentlich gerne im Alltag nützen würden. Denn Sicherheit geht vor.

So wie die Donaustadt über den „Mega-Radhighway“ mit dem Donaukanal und dem Ringradweg verbunden wird, müssen alle Bezirke über sichere Radwege ans höherwertige Radwegenetz angebunden werden.

Es braucht aber nicht in jeder Gasse einen sicheren Radweg. Wichtig ist ein durchgängiges Netz, das von jeder Stelle aus innerhalb weniger Häuserblocks erreichbar ist. Um die Sicherheit auf der Strecke zum nächsten Radweg zu erhöhen, sind Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung zu setzen. Diese können z. B. niedrigere Tempolimits und modale Filter, also Durchfahrtssperren für Kfz, sein. Auch für den Radverkehr geöffnete Einbahnen erhöhen die Sicherheit durch den Blickkontakt und die geringe Zeit einer Begegnung. Leider hat Wiens Regierung die in der Novelle der Straßenverkehrsordnung geplante generelle Einbahnöffnung für Radfahrende blockiert.

So wird Wien Fahrradhauptstadt

Zusammenfassend: Es braucht in Wien ein durchgängiges dichtes Grundnetz direkt verlaufender Radwege und verkehrsberuhigte Routen, um diese zu erreichen. Es ist an der Zeit, die Ankündigungspolitik hinter sich zu lassen, Versprechungen einzulösen und von einem Radwegebauprogramm, das vor allem der Selbstvermarktung dient, auf eines zu wechseln, das schnelle Verbesserungen im Fahrradalltag bringt. So wird Wien Fahrradhauptstadt. So wird Wien Klimamusterstadt.

Weiterführende Informationen:
Hauptradverkehrsnetz Wien (wien.gv.at)
NEOS Wien: Neue Radschnellwege für Wien! (ots.at, 19.8.2020)
Koalitionsprogramm der „Wiener Fortschrittskoalition“ (wien.gv.at)
Absage von Radfahren gegen Einbahn: Gewessler glaubt an Einigung mit Wien (derstandard.at, 15.6.2022)
Radwege sollen möglichst direkt verlaufen (wien.orf.at, 24.3.2024)
Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2022“ (Radeln For Future)
Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“ (Radeln For Future)
Einmal Gürtel und retour (Radeln For Future)

Vom Hausverstand, schönen Worten, fehlenden und falschen Taten

Für alle, die den Zustand des Wiener Hauptradverkehrsnetzes kennen, war unser Aprilscherz leicht durchschaubar. Das Statement war eine Mischung aus Fakten und Zitaten aus von der Stadt Wien veröffentlichten Dokumenten, garniert mit schöngefärbten Aussagen im Stile der selbsternannten Wiener Fortschrittskoalition.

Radeln For Future verabschiedet sich nicht

Zumindest in absehbarer Zeit nicht. Es gibt zwar von Jahr zu Jahr Fortschritte im Ausbau des Radwegenetzes, aber mit dem Schneckentempo der Stadtregierung ist das Ziel eines dichten Netzes durchgängiger Radwege noch weit entfernt. Es besteht daher weiterhin Bedarf an unseren monatlichen Raddemos und anderen Aktionen. Die nächste Gelegenheit zum Mitradeln gibt es schon am Freitag, 5. April 2024. Die Route führt gemeinsam mit 3 lokalen Initiativen durch Ottakring und Hernals.

Fortschritte, aber zu wenig und zu langsam

Die jährlichen Bauprogramme für Radverkehrsanlagen umfassen seit 2022 mehr Projekte und davon sind auch mehr Radwege als früher. Diese Verbesserung basiert vor allem auf höheren Fördergeldern aus dem Bundesbudget. Wurden bis 2020 nur 1-1,5 Mio. Euro vom Bund zugeschossen, erhöhte sich dieser Betrag für 2021 und 2022 schon auf je rund 6 Mio. Euro. Für 2023/24 wurden vom Bund sogar Fördergelder in der Höhe von 28 Mio. Euro zugesagt – unter der Voraussetzung, dass die eingereichten Projekte innerhalb der nächsten 2 Jahre umgesetzt werden. Aus dem Budget der Stadt Wien hat die selbsternannte Fortschrittskoalition für die aktuelle Legislaturperiode 26 Mio. Euro für den Radverkehr eingeplant – also rund 5,2 Mio. Euro jährlich. Weitere Details zu diesem Thema bietet die Analyse der Radlobby.

Gemessen am erhöhten Budget ist die gesteigerte Qualität der jährlich angekündigen Projekte – von denen längst nicht alle umgesetzt und fertiggestellt werden, s. die Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“ – nicht mega, sondern eine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommt, dass nicht alle Projekte den Bau neuer Radwege umfassen, wie es durch die Bezeichnung suggeriert wird.

Papier ist geduldig

Am Papier haben z. B. fahrradfreundliche Strukturen hohe Priorität bei der Planung neuer Stadtgebiete. Die Realität offenbart den Unterschied zwischen Beschlüssen und deren Umsetzung. Weder in der Seestadt Aspern noch im Nordbahnviertel wurde bisher sichere Radinfrastruktur errichtet. In den beiden neuen Stadtvierteln bestehen die Anlagen des Hauptradverkehrsnetzes auf den Hauptstraßen nur aus Mehrzweckstreifen. Nebenstraßen sind durch die teilweise Gestaltung als Sackgassen für Kfz zwar verkehrsberuhigt, aber im Alltag Radelnde bevorzugen wie auch Autofahrende direkte Verbindungen. Daher ist es unerlässlich, die erwähnte hohe Priorität bei der Planung fahrradfreundlicher Strukturen vom Papier auf die Straße zu bringen und dabei auf praxistaugliche direkte Verbindungen zu setzen.

Mehr Radverkehr hilft bei der Lösung innerstädtischer Verkehrsprobleme

Auch in diesem Punkt klafft eine riesige Lücke zwischen den Bekenntnissen auf Papier und der Umsetzung. Beim Überfliegen der Regierungsvereinbarung der Wiener Fortschrittskoalition erscheint es, als ob die Verantwortlichen die Notwendigkeit der Verkehrswende tatsächlich erkannt hätten, in der Praxis dominieren Scheinlösungen.

Der Kurs von Verkehrsstadträtin Sima stimmt nur zum Teil. Auf der einen Seite lässt sie das Radwegenetz weiterhin ausbauen, wobei Geschwindigkeit und Art des Ausbaus aber zu wünschen übrig lassen und nicht den Ankündigungen entsprechen, s. die Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“. Auf der anderen Seite verteidigt sie den Bau des als „Stadtstraße“ kleingeredeten Autobahnzubringers in der Donaustadt mit fadenscheinigen Argumenten.

Aufgrund des großteils gut ausgebauten Netzes des ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) kommt dem Radverkehr in Wien große Bedeutung bei der anvisierten Reduktion des Autoverkehrs zu. Ein Netz sicherer Radwege ist ein attraktives Angebot, das vielen den Umstieg vom teuren klimaschädlichen Auto auf das günstigere klimafreundliche gesundheitsfördernde Fahrrad ermöglicht.

Mehr Radverkehr hebt insgesamt die Lebensqualität in den Städten

Diese Überschrift ist ein zutreffendes Zitat aus dem Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“. Es gibt viele Gründe, warum die Lebensqualität durch ein Mehr an Rad- und ein Weniger an Kfz-Verkehr steigt. Ein paar davon sind: Weniger Lärm, weniger Unfälle, weniger Emissionen, bessere Gesundheit, mehr soziale Gerechtigkeit.

Wien ist eine der lebenswertesten Städte der Welt, aber leider nicht für alle. Für Radfahrende und dabei speziell für Kinder gibt es ganz klar bessere Städte. Auch für Menschen, die gerne im Alltag mit dem Radfahren wollen, es aber mangels sicherer Radwege nicht wagen, fehlt ein attraktives Angebot.

Bis zur 33. Novelle der Straßenverkehrsordnung war das Nebeneinanderfahren Radfahrender nur in Fahrradstraßen erlaubt. Jetzt dürfen Kinder auf diese Weise vollkommen legal vom Kfz-Verkehr abgeschirmt werden. Wer jemals radfahrende Kinder im Straßenverkehr begleitet hat, weiß wie wichtig diese Änderung in der StVO war. Gleichzeitig kann das aber nur als Notlösung gelten, bis auf allen Hauptstraßen Radwege errichtet und Seitengassen verkehrsberuhigt sind.

Viele meinen, Kinder bräuchten keine Radwege, weil sie auf Gehsteigen radeln können. Das Gesetz erlaubt das allerdings nur mit Fahrrädern, deren Felgendurchmesser maximal 30 Zentimeter beträgt. Haben die Fahrräder größere Felgen montiert, dürfen legal nur Radwege und Straßen befahren werden. Dass Volksschulkinder in Wien kostenlose Radfahrkurse besuchen können ist begrüßenswert, wichtiger wäre aber der rasche und flächendeckende Ausbau sicherer Infrastruktur. Denn wer denkt, dass ein mehrstündiger Kurs Kinder auf das Radeln im Mischverkehr mit Kfz vorbereiten kann?

Schöne Worte, fehlende Taten …

Der Wiener Klimafahrplan wurde am 23. Februar 2022 mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, GRÜNE und NEOS beschlossen. Darin wird u. a. vermerkt, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Modal Split bis zum Jahr 2030 auf 15 Prozent sinkt (2023: 26 Prozent). Wieder zeigt sich der Unterschied zwischen Beschlüssen am Papier und der Umsetzung in der Praxis. Auch Fachleute sehen nicht, wie der für 2030 gewünschte Modal Split mit den Maßnahmen der Fortschrittskoalition erreicht werden kann.

… und falsche Taten

Die Wiener Fortschrittskoalition treibt auch große Straßenbauprojekte wie den Autobahnzubringer „Stadtstraße“ oder die Sanierung der Autobahn A4, für die mehr als 1.200 Bäume gerodet werden sollen, voran. Mit derartigen Projekten rücken die Ziele des Klimafahrplans in weite Ferne.

Hirschstetten ist nicht mehr zu retten, aber für die Bäume neben der A4 entlang des Donaukanals besteht noch Hoffnung. Wenn SPÖ und NEOS dabei mithelfen wollen, Wien zur Klimamusterstadt zu machen, müssen sie sich für eine klimafitte Sanierung der A4 einsetzen. Denn auch tausende Neupflanzungen können Jahrzehnte alte gesunde Bäume nicht ersetzen.

Um für den Erhalt der Bäume und des Radweges neben der A4 zu protestieren, findet am 13.4. eine Raddemo statt. Diese wird von einem breiten Bündnis verschiedenster Initiativen organisiert und unterstützt und führt an den geplanten Tatorten vorbei.

Wenn der Hausverstand zu kurz denkt

Politisch Verantwortliche bringen oft den Hausverstand ins Spiel, wenn sie sich von der Bevölkerung Zustimmung erhoffen, die von wissenschaftlicher Seite nicht gegeben ist. Bei Straßenbauprojekten wird es dann gerne so dargestellt, als ob weitere Fahrspuren oder gar komplett neue große Straßen zur Entlastung bestehender Straßen führen. Kurzfristig stimmt das sogar. Vom Danach sprechen politisch Verantwortliche aber ungern. Denn so, wie der Hausverstand zum Schluss kommt, dass der Verkehr auf Straßen, deren Verkehrsbelastung auf mehr Spuren verteilt wird, flüssiger wird, kommt der Hausverstand auch zum Schluss, dass diese Straßen dadurch für Autofahrende attraktiver werden. Darum ziehen neue Straßen Autoverkehr an und nach einer gewissen Zeit ist wieder alles beim Alten.

Das Angebot macht den Verkehr

Dieses Phänomen wird induzierter Verkehr genannt: Mehr Angebot an Infrastruktur führt zu mehr Verkehr. Das funktioniert auch umgekehrt: Weniger Angebot führt zu weniger Verkehr. Das betrifft nicht nur Kfz-, sondern auch ÖPN-, Rad- und Fußverkehr.

Durch die Planung des Angebots hat es die Fortschrittskoalition in der Hand, wie der Verkehr in Zukunft aussehen soll. Durch ihre autofreundliche Verkehrspolitik untergraben SPÖ und NEOS den von ihnen mitbeschlossenen Wiener Klimafahrplan und legen der Stadt Wien bei ihren Bemühungen, ihre Klimaziele zu erreichen, große Steine in den Weg. Aber auch die Bezirke sind gefordert, Blockaden zu beenden, damit Wien eine Klimamusterstadt werden kann.

Radwegoffensive für den gewünschten Modal Split

Was von den sogenannten Mega-Radwegoffensiven zu halten ist, wurde bereits ausgeführt. Der Radverkehrsanteil von 10 Prozent sollte laut Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“ vom Mai 2013 schon 2015 erreicht werden. 2012 betrug der Anteil des Radverkehrs 6 Prozent, 2015 wurden nur 7 Prozent erreicht. Auf diesem Wert stagnierte der Anteil, bis die Corona-Pandemie dem Radfahren einen Schub gab und auf 9 Prozent hob.

Da der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bis 2030 von 26 auf 15 Prozent sinken soll, muss die Anzahl der im Umweltverbund (ÖPNV, Rad- und Fußverkehr) zurückgelegten Wege um 11 Prozent wachsen. Wie schon ausgeführt wurde, ist der ÖPNV innerstädtisch gut ausgebaut. Der Anteil des ÖPNV am Modal Split wuchs von 29 Prozent im Jahr 1993 auf 39 Prozent im Jahr 2016 und lag im Jahr 2023 bei 32 Prozent. Wie eine interaktive Grafik des ORF zeigt, beträgt der Anteil des Autoverkehrs seit 2012 um die 27 Prozent. Der Großteil der Veränderungen bestand seitdem aus Verschiebungen innerhalb des Umweltverbundes.
In einer Mobilitätsumfrage des VCÖ gaben 44 Prozent der Autofahrenden in Wien an, manchmal vom Auto abhängig zu sein, obwohl sie lieber anders unterwegs wären.

Was sagt der Hausverstand dazu?

Offensichtlich gibt es für Autofahrende kein attraktives Angebot zum Umstieg. Will die Fortschrittskoalition der Stadt Wien beim Erreichen der Klimaziele nicht nur am Papier helfen, muss sie Maßnahmen treffen, die den Autoverkehr nachhaltig reduzieren. 33 Prozent der mit dem Auto zurückgelegten Wege in Wien sind zwischen 1 und 5 Kilometer lang, 28 Prozent 5 bis 10 Kilometer lang. Für solche Distanzen ist das Fahrrad bestens geeignet – denn im Schnitt liegt der Besetzungsgrad eines Autos nur knapp über 1 und nicht mit jeder Autofahrt wird ein Kühlschrank oder Wocheneinkauf transportiert. Da die öffentlichen Verkehrsmittel bereits gut ausgebaut ist, liegt der Schlüssel in der Förderung des Radfahrens. Denn mehr Angebot an attraktiver Radinfrastruktur führt zu mehr Radverkehr. Attraktiv wird Radinfrastruktur durch sichere direkte durchgängige Radwege. Den Mangel an diesen gilt es rasch zu beheben.

Die nächsten Raddemos von „Radeln For Future“

Wir helfen der Stadt Wien gerne dabei, die Verkehrswende zu schaffen und ihre Klimaziele zu erreichen. Darum werden wir die politisch Verantwortlichen im Rathaus und den Bezirken auch weiterhin regelmäßig an ihre Versprechen und Beschlüsse erinnern.

Am 5. April 2024 radeln wir gemeinsam mit 3 Initiativen durch Ottakring und Hernals. Der „Sandleitner Radausflug“, die „Initiative Fahrradstraße 16/17“ und der „Bici-Bus Hernals“ setzen sich für mehr Fahrradinfrastruktur in den beiden Bezirken ein.

Als Abschluss der Runde durch Ottakring und Hernals wird der Gürtel zwischen Burggasse und Spittelau beradelt – ein kleiner Vorgeschmack auf den diesjährigen Gürtel Bike Ride, mit dem am 3. Mai 2024 ein Radschnellweg entlang des gesamten Gürtels gefordert wird und der 2023 laut Auskunft der Polizei mit bis zu 1.200 Teilnehmenden die bisher größte Demo von „Radeln For Future“ war. Von der Spittelau aus führt die Route über die Donaukanallände zurück zum Votivpark.

Treffpunkt ist wie immer um 17:00 Uhr beim Votivpark, die Abfahrt ist um 17:30 Uhr.

Wir freuen uns auch weiterhin auf euch! Radelt mit!

Weiterführende Informationen:
Radeln For Future 5.4.2024 Ankündigung
Gürtel Bike Ride 3.5.2024 Ankündigung
A4 Raddemo 13.4.2024 Ankündigung
Bici-Bus Hernals
Initiative Fahrradstraße 16/17
Sandleitner Radausflug
Einmal Gürtel und retour
Wiener Linien verzeichnen Fahrgast-Rekord (ORF, 23.1.2017)
Radwege sollen möglichst direkt verlaufen (ORF, 27.3.2024)
Rekordsumme für Radwegausbau (ORF, 20.7.2023)
Anteil der Radfahrer in Wien steigt (ORF, 22.3.2024)
Presseaussendung zum Modal Split 2023 (22.3.2024)
Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“
Rekordfördersumme des Bundes für Wien – Mittel reinvestieren! (Radlobby, 31.8.2023)
VCÖ
Das Phänomen Verkehr (Dipl.-Ing. Rudolf Pfleiderer, März 2009)
Längenverteilung von Autofahrten (Wien Energie, 9.11.2020)
Radwegoffensive 2022 (Mobilitätsagentur Wien)
Radwegoffensive 2023 (Mobilitätsagentur Wien)
Radwegoffensive 2024 (Mobilitätsagentur Wien)
Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“ (Mai 2013)
Wiener Klimafahrplan – Unser Weg zur klimagerechten Stadt (März 2022)
Koalitionsabkommen der Wiener Fortschrittskoalition (Dezember 2020)

Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“

Info: Am 23.3.2024 wurde die Analyse um den Abschnitt Nachzügler verbessern die Gesamtbilanz 2023 erweitert.


Im März 2023 wurde von Wiens Verkehrsstadträtin Ulli Sima wie schon im Jahr zuvor eine „Mega-Radwegoffensive“ vorgestellt. 50 Projekte mit mehr als 20 Kilometern wurden versprochen. Mitte Jänner 2024 veröffentlichte Sima ein Video zur Bilanz des Jahres 2023.

Ulli Sima: „2023 war ein Wahnsinnsjahr für die Radinfrastruktur. Wir haben über 30 Millionen Euro ausgegeben, über 50 Projekte umgesetzt und in Summe mehr als 20 Kilometer Radinfrastruktur baulich errichtet.“ – wirklich? Zeit für einen Reality Check!

Schon kurz zuvor – am 10. Jänner 2024 – starteten wir einen Thread, in dem sich ein interessanter Dialog mit dem Account der Mobilitätsagentur @fahrradwien ergab.

Wir haben dabei gelernt, dass nicht nur fertig gebaute Projekte, sondern auch begonnene zur Jahresbilanz gezählt werden, die am 15. Jänner mit dem Titel „Bilanz: 2023 errichtete die Stadt Wien 20 km neue Radinfrastruktur“ veröffentlicht wurde. Diese schwammige Zuordnung war Anlass für eine schnelle Umfrage auf Twitter, die zeigt, dass diese Art der Bilanzierung nicht mehrheitsfähig ist.

Die Schlagzeile wird zwar schon im 2. Satz des Blogposts mit „Bei 53 Projekten wurden der Bau zumindest begonnen, viele sind bereits fertiggestellt“ relativiert, Medien übernehmen aber oft nur die Schlagzeile.

Radverkehrsanlagen, Sima und Medien

So gut wie immer wird jegliche Verkehrsfläche, die für Radfahrende gedacht ist, als Radweg bezeichnet. Vor allem Verkehrsstadträtin Sima sollte es besser wissen und flapsige Formulierungen bleiben lassen. „Wir bauen 20 Kilometer Radwege“ geht natürlich leichter über die Lippen als „Wir bauen neue Radwege, Geh- und Radwege, fahrradfreundliche und Fahrradstraßen und Mehrzweckstreifen, öffnen Einbahnen und Busspuren und verbessern den Bestand auf insgesamt 20 Kilometern“, aber durch die verkürzte Darstellung wird ein falsches Bild transportiert. Die Medien sind daher gefordert, kritischer zu berichten und Presseaussendungen und Aussagen Verantwortlicher zu überprüfen, anstatt sie einfach zu übernehmen.
Einen Überblick über alle Arten von Radverkehrsanlagen gibt es auf der Website der Stadt Wien.

Wie viele Projekte und Kilometer wurden 2023 tatsächlich umgesetzt?

Zur Beurteilung werden das auf wien.gv.at veröffentlichte „Bauprogramm Radverkehrsanlagen 2023“ (Stand 10.1.2024), die von der Mobilitätsagentur veröffentlichte Bilanz 2023 (15.1.2024) und der tatsächliche Zustand der Projekte herangezogen – ist der Status „fertiggestellt“ oder „baulich fertig, Bodenmarkierungen fehlen“, dann wird das jeweilige Projekt in unserer Bilanz berücksichtigt. Ist die Anlage noch eine Baustelle oder noch nicht mal das, hat sie in einer Jahresbilanz nichts verloren.
2 Beispiele: Beim verbreiterten Radweg in der Praterstraße fehlen seit Monaten nur noch Bodenmarkierungen, die Anlage wird aber bereits rege benützt – darum wird der Radweg trotz des Baustellencharakters in unsere Jahresbilanz fertiger Projekte der Kategorie „Bestandsverbessung“ aufgenommen. Der 3. Abschnitt des Radwegs in der Krottenbachstraße ist auch schon markiert, ausgeschildert und benützbar, obwohl er noch den Status in Bau hat, und gilt in unserer Bilanz als fertiger Neubau.

Im Laufe des Jahres 2023 gab es einige Änderungen im Bauprogramm: Von 50 im März 2023 angekündigten Projekten haben es 9 nicht in die Bilanz der Mobilitätsagentur geschafft, 4 wurden zu 2 zusammengelegt, 1 wurde auf 3 geteilt, 11 kamen neu dazu und 2 weitere, die schon im Bauprogramm 2022 angekündigt wurden, wurden zusätzlich in die Bilanz 2023 aufgenommen. So kommt die offizielle Bilanz auf 53 Projekte mit 20.248 Metern Länge.

Für unsere Analyse wurden die teils großzügigen Längenangaben aus der offiziellen Bilanz übernommen, bei einem Projekt wurde allerdings eine Korrektur vorgenommen:
„Schottenring von Schottengasse bis Heßgasse“, 20 statt 97 Meter, da die angekündigte Verlegung des Radweges in die Nebenfahrbahn nicht umgesetzt wurde.
Die Gesamtlänge der für die Bilanz 2023 berücksichtigen Radverkehrsanlagen reduziert sich damit auf 20.171 Meter.

53 Projekte, davon 35 fertig

Von 53 Projekten in der offiziellen Bilanz können 35 als fertig gewertet werden. Diese 66 Prozent liegen über dem Wert der fertigen sicheren Radverkehrsanlagen gemessen an deren Länge. Das ist wenig überraschend, da Bestandsverbesserungen oft mit kleineren baulichen Maßnahmen auskommen. Für eine fahrradfreundliche Straße reichen z. B. schon ein paar Bodenmarkierungen und mit ein paar Verkehrszeichen wird eine Fahrradstraße daraus.

Aber auch sichere Radwege sind mit kleinen baulichen Maßnahmen umsetzbar. Oft würde es reichen, eine Fahr- oder Parkspur mit Betonleitschienen oder Pollern vom Kfz-Verkehr abzutrennen. Andere Städte machen es vor, nur in Wien setzt die Verkehrsstadträtin ausschließlich auf den Goldstandard. Die Klimakrise erfordert schnelle und ressourcenschonende Maßnahmen. Warum also Straßen aufreißen und mit viel zeitlichem und finanziellem Aufwand Radwege bauen, wenn es auch schneller und billiger ginge?

Vor allem würde eine solche Vorgehensweise Ulli Simas größtes Problem lösen: Sie betont regelmäßig, dass das Tempo des Ausbaus der Radverkehrsanlagen durch einen Mangel an Baukapazitäten gebremst wird. Offenbar mangelt es aber auch am Willen, die Verkehrswende voranzutreiben.

Bilanz Bauprogramm 2023: 8,1 Kilometer sichere Radinfrastruktur

Sichere Infrastruktur, also Radwege und Geh- und Radwege, machen in der Bilanz insgesamt 16.614 Meter aus – davon sind 9.408 Meter Neubauten in Straßen, in denen bisher keine Radverkehrsanlage vorhanden war. Zum Zeitpunkt der Bilanzierung waren allerdings erst 8.155 Meter fertiggestellt, davon sind 4.082 Meter Neubauten. Die Bestandsverbesserungen in der Kategorie sicherer Infrastruktur machen 4.073 Meter aus.

Als Bestandsverbesserung gilt der Umbau bestehender Radverkehrsanlagen in sicherere Anlagearten, z. B. ein Upgrade von einem Mehrzweckstreifen auf einen Einrichtungsradweg, aber auch eine Verbesserung innerhalb derselben Anlageart – das kann z. B. durch die Verbreiterung eines bestehenden Radweges der Fall sein.

Über alle Anlagearten verteilt wurden von 20.171 in die offizielle Bilanz aufgenommenen Metern erst 10.386 Meter fertiggestellt – also nur rund 51 Prozent.

Mehr Transparenz zeigt unklare Zuordnungen

Positiv zu vermerken ist, dass die Bilanz des Jahres 2023 auch als Liste mit den zur Bilanz gezählten Projekten inklusive deren jeweiliger Längen veröffentlicht wurde. Das schafft mehr Transparenz, wodurch im Vergleich zu den Vorjahren ersichtlich wurde, wie großzügig Ulli Simas Ressort Projekte zuordnet.

Diese Transparenz zeigt aber auch, wie unklar die Zuordnungen zu den Jahresbilanzen sind. 2 Beispiele dafür:
Der 1. Abschnitt des Radwegs in der Krottenbachstraße wird in der offiziellen Jahresbilanz 2023 mit 386 Metern gelistet, wurde aber bereits für 2022 angekündigt und wird im Bauprogramm Radverkehrsanlagen 2022 als fertiggestellt angeführt. Wurde dieses Projekt doppelt gezählt? Mangels veröffentlichter Liste zur offiziellen Bilanz 2022 bleibt das unklar.
Der Lückenschluss in der Herndlgasse wird wiederum in der offiziellen Jahresbilanz 2023 mit 540 Metern berücksichtigt, obwohl selbst Ende Februar 2024 noch keine Bautätigkeit statt fand. Auf Nachfrage informierte die Mobilitätsagentur, dass dort Bauvorarbeiten durchgeführt wurden.

Unklarheiten wie diese werden sich erst im Laufe der Jahre mit voller Transparenz auflösen.

Andere Unklarheiten haben sich geklärt: Z. B. werden beidseitig errichtete Einrichtungsradwege als eigenständige Anlagen gezählt. So können am Rennbahnweg auf 935 Meter Länge gleich 1.870 Meter neue Radwege entstehen. In unserer Bilanz werden sie allerdings nicht berücksichtigt, da sie noch in Bau sind. Diese Berechnungsart ist zum Teil nachvollziehbar, andererseits wird der Autobahnzubringer „Stadtstraße“ auch nur als „3,2 Kilometer lange Gemeindestraße“ bezeichnet, obwohl die Fahrtrichtungen baulich getrennt sind und beim Anlegen des gleichen Maßstabs als 6,4 Kilometer gelten müssten.

Besser als 2022, aber immer noch zu wenig

Es wäre wünschenswert, wenn die Planung des Bauprogrammes zukünftig realistischer wird und die Fertigstellungsquote der für das Kalenderjahr geplanten Projekte sich 100 Prozent nähert. Auch die vielen Änderungen in der Liste seit der Präsentation zeigen, dass es sich dabei mehr um eine Absichtserklärung als einen Plan handelte. In der offiziellen Bilanz sollten nur fertige Projekte berücksichtigt werden. Das wäre ein Anreiz, angekündigte Projekte auch noch im selben Jahr abzuschließen.

Die Transparenz kann noch gesteigert werden, indem die Finanzierung offen gelegt wird. Von den kommunizierten 30-35 Millionen Euro, die für den Ausbau der Radverkehrsanlagen veranschlagt werden, kommt der Großteil vom Bund und nicht der Stadt Wien. Interessant wäre z. B., ob Projekte wie der Neubau des Kagraner Steges voll dem Radbudget zugeordnet werden.

Die Zahlen in übersichtlicher Form

Im vorangegangenen Text kommen viele Zahlen in unterschiedlichen Zusammenhängen vor. Eine Tabelle erübrigt weitere Worte zu einzelnen Kategorien.

Basierend auf den in der offiziellen Bilanz angegebenen Längen – abzüglich zuviel verrechneter 77 Meter am Schottenring – ergeben sich die folgenden Werte für die verschiedenen Arten von Radverkehrsanlagen:

Radwege
14.188 m
Neubau
8.575 m
fertig3.249 m
in Bau5.326 m
Bestandsverbesserung
5.613 m
fertig2.985 m
in Bau2.628 m
Geh- und Radwege
2.426 m
Neubau
833 m
fertig833 m
in Bau
Bestandsverbesserung
1.593 m
fertig1.088 m
in Bau505 m
Radfahren gegen die Einbahn
693 m
Neubau
451 m
fertig451 m
in Bau
Bestandsverbesserung
242 m
fertig242 m
in Bau
Fahrradstraße
2.067 m
Neubau
92 m
fertig92 m
in Bau
Bestandsverbesserung
1.975 m
fertig649 m
in Bau1.326 m
Fahrradfreundliche Straße
430 m
Neubau
fertig
in Bau
Bestandsverbesserung
430 m
fertig430 m
in Bau
Mehrzweckstreifen/
Radfahrstreifen
363 m
Neubau
363 m
fertig363 m
in Bau
Bestandsverbesserung
fertig
in Bau
Sonstiges
4 m
Neubau
fertig
in Bau
Bestandsverbesserung
4 m
fertig4 m
in Bau
Gesamt
20.171 m
Neubau
10.314 m
fertig4.988 m
in Bau5.326 m
Bestandsverbesserung
9.857 m
fertig5.938 m
in Bau4.459 m

Nachzügler verbessern die Gesamtbilanz 2023

Der bisherige Teil der Analyse bezieht sich nur auf das veröffentlichte „Bauprogramm Radverkehrsanlagen 2023“ und die offizielle Jahresbilanz. Es gab aber nicht erst 2023 Projekte, die nicht im Jahr der Ankündigung fertiggestellt wurden. Zur Gesamtbilanz 2023 müssen auch jene gezählt werden, die es in unserer Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2022“ nicht in die Jahresbilanz 2022 geschafft haben, weil sie erst 2023 fertiggestellt wurden. Die Werte des Bauprogramms 2023 werden somit um 4.320 Meter an Radwegen und 180 Meter an Geh- und Radwegen ergänzt, davon 3.640 Meter Bestandsverbesserungen.

2023 wurde sichere Infrastruktur mit 12.655 Metern Länge fertiggestellt. Davon erschlossen 4.942 Meter Strecken, auf denen bisher keine Radverkehrsanlagen vorhanden waren, 7.713 Meter waren Bestandsverbesserungen.

Die Längen der erst 2023 fertiggestellten Projekte des Bauprogramms 2022 wurden durch eigene Messungen im Stadtplan ermittelt und ergeben die folgenden Werte für die verschiedenen Arten von Radverkehrsanlagen:

Radwege
4.320 m
Neubau
680 m
Bestandsverbesserung
3.640 m
Geh- und Radwege
180 m
Neubau
180 m
Bestandsverbesserung

Radfahren gegen die Einbahn
510 m
Neubau
510 m
Bestandsverbesserung

Fahrradstraße
350 m
Neubau
350 m
Bestandsverbesserung
Fahrradfreundliche Straße
1.490 m
Neubau
1.490 m
Bestandsverbesserung
Radfahren auf Busspuren
750 m
Neubau
750 m
Bestandsverbesserung
Gesamt
7.600 m
Neubau
3.960 m
Bestandsverbesserung
3.640 m

12,7 Kilometer (Geh- und) Radwege pro Jahr sind nicht genug

Für Projekte, die nur aus Farbe und/oder Verkehrszeichen bestehen, ist der Begriff Infrastruktur zu hoch gegriffen. Inklusive dieser unsicheren – baulich nicht getrennten – Radverkehrsanlagen wurden 2023 Projekte in der Länge von insgesamt 18.526 Metern fertiggestellt.

Der korrigierte Titel der offiziellen Bilanz müsste daher lauten:
Bilanz: 2023 errichtete und verbesserte die Stadt Wien 18,5 km Radverkehrsanlagen

Unter dem Begriff „Mega-Radwegoffensive“ darf nur sichere Infrastruktur gezählt werden. Von der groß angekündigten „Mega-Radwegoffensive 2023“ bleiben nur 8,1 Kilometer an fertiggestellter sicherer Infrastruktur übrig – davon 4,1 Kilometer auf neuen Strecken. Mit erst 2023 fertiggestellten Projekten der „Mega-Radwegoffensive 2022“ erhöht sich die Länge zwar auf knappe 12,7 Kilometer, von denen aber nur knapp unter 5 Kilometer neue Strecken erschließen.

Mega? Kaum. Offensive? Auch nicht. Fahrradhauptstadt? Garantiert nicht.

Ausblick: Der Weg zur Fahrradhauptstadt

Ein wichtiges Ziel für die weitere Arbeit ist die Erschließung neuer Zielgruppen, also Bevölkerungsgruppen zum Radfahren zu bringen, die bis dato im Wiener Radverkehr unterrepräsentiert waren.

Das Wiener Rad-Manifest, 2013

Die Erhöhung des Radverkehrsanteils ist ein Schritt am Weg zur Klimamusterstadt. 2013 wurden das Ziel ausgegeben, dass der Radverkehrsanteil von 5 Prozent im Jahr 2010 bis 2015 auf 10 Prozent verdoppelt werden soll. Dieser Wert wurde auch 2021 noch nicht erreicht.
Update: Am 22.3.2024 wurde der Modal Split 2023 veröffentlicht, in dem der Radverkehrsanteil mit 10 Prozent angegeben wird.

Im Jahr 2013 beschloss die Wiener SPÖ gemeinsam mit den Grünen den Grundsatzbeschluss Radfahren in Wien und die Stadt Wien veröffentlichte Das Wiener Rad-Manifest. 10 Jahre später wird es höchste Zeit, die schönen Worte von damals endlich umzusetzen.

Wie schon 2022 wurden auch 2023 einige wichtige Projekte begonnen, aber ein großer Teil bestand lediglich aus Verbesserungen bestehender Radverkehrsanlagen. Wichtiger als an vielen Stellen kurze Radwegabschnitte zu errichten ist die Schaffung eines echten Radwegenetzes mit langen durchgängigen Radwegen, um möglichst vielen Menschen die Benützung des Fahrrads im Alltag zu ermöglichen. Für Kinder oder auch Ungeübte stellt jede Lücke in der Infrastruktur ein Hindernis und eine Einschränkung der Mobilitätsfreiheit dar. Sobald solche Hindernisse beseitigt werden und das Wiener Radwegnetz diesem Namen gerecht wird, wird der Radverkehrsanteil deutlich ansteigen.

Politik für die Verkehrswende statt schöner Worte

Die Anschaffung und die Erhaltung eines Autos ist teuer. Nicht alle dürfen Autos lenken. Autoverkehr verursacht Schäden an Klima, Umwelt und Gesundheit. Autos nehmen gemessen am Nutzen unverhältnismäßig viel öffentlichen Raum ein. Die Verkehrswende steht für soziale Gerechtigkeit und erhöht die Lebensqualität. Daher heißt es frei nach Ulli Sima: „Nicht alle können mit dem Auto fahren!“

Dessen ist sich die SPÖ bewusst und präsentiert seit Jahren bzw. teils Jahrzehnten Pläne, den Autoverkehr zu reduzieren und den Radverkehr zu fördern. Um die eigenen Ziele zu erreichen, reicht es aber nicht, statt der Umsetzung der großen Pläne nur ein paar Schauprojekte zu bauen und zu plakatieren, dass Wien Fahrradhauptstadt ist.

Damit Wien zur Fahrradhauptstadt wird, muss noch viel passieren. Die Stadt bietet bereits Radfahrkurse für Kinder und Erwachsene an, um mehr Menschen zum Radfahren zu motivieren. Das ist eine wichtige Initiative, es fehlen aber die Radwege, auf denen Ungeübte im Alltag radeln können. Kinder der 4. Schulstufe dürfen die freiwillige Radfahrprüfung ablegen und danach auch unbegleitet am Verkehr teilnehmen. Nur 5 Prozent der Eltern von Kindern im Alter von 6-10 schätzen das unbegleitete Radfahren als sicher ein, weitere 13 Prozent als eher sicher.

Wie alltagstaugliche Infrastruktur aussieht, zeigt Utrecht, das weltweit die wahre Fahrradhauptstadt sein dürfte. Paris war bis vor ein paar Jahren mit Wien vergleichbar und kann inzwischen als Vorbild bezüglich der Geschwindigkeit des Umbaus von der Autostadt zur Fahrradstadt dienen. Paris gab Ende 2021 bekannt, bis 2026 250 Millionen Euro in den Ausbau von Radinfrastruktur zu investieren, womit u. a. 182 Kilometer baulich getrennte Radwege errichten werden, wovon 130 Kilometer komplett neu und 52 Kilometer die Aufwertung bestehender Pop-up-Radwege sein werden. Paris hat aber nur rund 270.000 Einwohner mehr als Wien.

Die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ muss sich an Städten wie Utrecht und Paris orientieren, anstatt die wenig ambitionierte eigene Politik schönzureden.

Quellen und weiterführende Informationen:
Bauprogramm Radverkehrsanlagen – aktuell
Bauprogramm Radverkehrsanlagen – 2023
Bauprogramm Radverkehrsanlagen – 2022
Radwegoffensive 2023
Bilanz: 2023 errichtete die Stadt Wien 20 km neue Radinfrastruktur
Offizielle Bilanz 2023 als Liste
Presseaussendung zur Bilanz 2022
#radliebewien: Bilanz 2022
Hauptradverkehrsnetz Wien
Grundsatzbeschluss Radfahren in Wien
Das Wiener Rad-Manifest
Mobilitätsreport 2019
Freiwillige Radfahrprüfung
Inside the New Plan to Make Paris ‚100% Cyclable‘
Utrecht – planning for people, not for cars
Anteil der Radfahrer in Wien steigt

Einmal Gürtel und retour

Die Stadt Wien hat sich große Ziele gesetzt. Mit den bisherigen Scheinmaßnahmen wird sie diese nicht erreichen. Das Gelingen der Verkehrswende ist von einem praxistauglichen dichten und durchgängigen Radwegenetz abhängig.

Der Gürtel ist eine der wichtigsten Verkehrsadern Wiens. Die Wiener Stadtregierung hat sich das Ziel gesetzt, den Autoverkehr drastisch zu reduzieren. Trotzdem gibt es am Gürtel teils 8 Fahrspuren für den Kfz-Verkehr, während sich Zufußgehende und Radfahrende meist auf gemeinsam genutzten Flächen drängen müssen.
Dabei beginnt eine Fahrt über den Gürtelradweg vielversprechend – zumindest von St. Marx kommend. Am Landstraßer Gürtel, direkt neben dem Stadtentwicklungsgebiet Aspanggründe, sind Geh- und Radweg sanft aber klar getrennt und für den aktuellen Bedarf ausreichend breit.

Gürtelradweg am Landstraßer Gürtel
Gürtelradweg am Landstraßer Gürtel

Der erfreuliche Beginn führt aber schon nach nur 500 Metern in eine Nebenfahrbahn und mündet knapp zwei Häuserblocks weiter in die Hauptfahrbahn des Landstraßer Gürtels. Nach 500 Metern im Mischverkehr können Radfahrende mit der Fortsetzung des Radwegs wieder Hoffnung schöpfen – allerdings nur kurz, denn nach zwei Häuserblocks endet der Gürtelradweg abermals in der Hauptfahrbahn.

Nur jene, die in die Argentinierstraße oder zum Hauptbahnhof müssen, dürfen ihre Fahrt auf Radwegen fortsetzen. Für alle anderen folgt eine rund 2 Kilometer lange Durststrecke auf der Hauptfahrbahn des Gürtels, bis beim Herweghpark der durchgängige Abschnitt des Gürtelradwegs beginnt. Weniger Mutige müssen die Lücke bis zum Beginn der von den Fahrbahnen baulich getrennten Infrastruktur mit der Ausweichroute durch Neben- und Parallelgassen mit weniger Kfz-Verkehr überbrücken. Bei dieser alternativen Radroute, die zum größten Teil aus für den Radverkehr geöffneten Einbahnen besteht, ist Ortskenntnis von Vorteil.

Sobald der Herweghpark erreicht ist, kommen Radfahrende knapp 7 Kilometer weit einigermaßen sicher bis zur Nußdorfer Straße. Abschnittsweise gleicht die Strecke aber einem Hindernisparcour und ist großteils nur als gemeinsam zu nutzender Geh- und Radweg ausgeführt. Schon der Beginn in Margareten zeigt sich eher schmal bemessen und bereits nach 170 Metern kommt die erste Schikane. Anstatt einer direkten Führung des Radweges wird er in U-Form und über eine Verkehrsinsel geführt. Statt einer Ampel sind zwei zu passieren.

Mehr Platz für ein faires Miteinander

Hanna Schwarz von „Geht.Doch Wien“ sagt über den Gürtel: „Die Situation für aktive Mobilität ist beengt. Viele Radfahrende, viele Fußgängerinnen. Auf einem gemeinsam geführten Mehrzweckstreifen. Das führt zu vorprogrammierten Konflikten und ist nicht ideal. Will man aktive Mobilität fördern, braucht es mehr Platz für getrennte Radwege und Fußwege.“

Ein Blick auf den Gaudenzdorfer und Gumpendorfer Gürtel bestätigt das. Die Ausführung als gemeinsamer Geh- und Radweg ist besonders in den Kreuzungsbereichen Ursache für Konfliktsituationen. Am Knotenpunkt zwischen Gürtel und Wienzeile wird der Autoverkehr zuungunsten des Fuß- und Radverkehrs bevorzugt. Während Autofahrende die Stelle rasch passieren können, werden Zufußgehende und Radfahrende über Verkehrsinseln und sich kreuzende Wege geleitet. Statt die Linke Wienzeile in einem Zug überqueren zu können, müssen mehrere Ampelphasen abgewartet werden.

Geduldsprobe am Europaplatz

Das nächste Teilstück bis zum Westbahnhof besteht am Gumpendorfer Gürtel aus einem schmalen Geh- und Radweg, am Mariahilfer Gürtel aus einem schmalen Radweg. Der Westbahnhof ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Fuß- und Radverkehr werden hier jedoch besonders benachteiligt behandelt.

Ein Video des Alltagsradlers und Filmemachers Daniel Bleninger demonstriert das eindrucksvoll. Seitens der Mobilitätsagentur Wien wurde von Martin Blum bereits 2014 eine Verbesserung der Situation am Westbahnhof angekündigt. Geschehen ist bisher allerdings nichts.

Vergleich des normalen Radweges mit der direkten Fahrt entlang des Neubaugürtels während einer „Critical Mass“.

Über den Urban-Loritz-Platz scheint ein schmaler Einrichtungsradweg zu führen. Der Eindruck täuscht aber, denn es handelt sich dabei um einen Zweirichtungsradweg. Als ob das bei Gegenverkehr nicht herausfordernd genug wäre, hat die Stadt als Schikane einen Baum gepflanzt, um dessen Baumscheibe sich der Radweg für einige Meter teilt.

Zwischen der Hauptbibliothek und der Volksoper sorgen Seitenwechsel dafür, dass keine Langeweile aufkommt, und rote Wellen geben ausreichend Gelegenheit, um im Kopf die Einkaufsliste durchzugehen.

Gegen Ende der Tour über den Gürtelradweg kommen zwei Stellen, an denen 2022 Verbesserungen umgesetzt wurden. Knapp nach der Volksoper wurde die beengte Situation am Währinger Gürtel durch einen Bypass von etwa 300 Metern Länge entschärft. In Döbling führt der Gürtelradweg nun zuerst durch eine Fahrradstraße und dann über einen Geh- und Radweg, bevor er im Mischverkehr endet. Wie in Margareten fehlt auch in Döbling die anschließende Radinfrastruktur.

Am Gürtel ist genug Platz, man muss ihn nur anders verteilen

Die Anzahl radelnder Kinder und Familien ist ein guter Indikator für die Qualität von Radinfrastruktur. Obwohl der Gürtelradweg eine wichtige Alltagsverbindung darstellt, wird er nur von wenigen Kindern benützt. Das Radfahren am Gürtel ist schon für Erwachsene eine mühsame Angelegenheit. Ungleich schwieriger gestaltet es sich für Kinder und Familien.
Florian Klein, Organisator der „Kidical Mass“: „Der Gürtelradweg ist alles andere als kinderfreundlich. Besonders die Kreuzungssituationen sind für Kinder (und Erwachsene) sehr gefährlich. Hinzu kommt die schlangenlinienförmige Routenführung, die es Kindern nicht leichter macht, sich am Radweg sicher zu bewegen. Auch die fehlende Mittelmarkierung und der Fußverkehr erschweren Kindern die sichere Fahrt.“

Sein Fazit zur Situation am Gürtel: „Am Gürtel ist genug Platz für eine gute, (kinder-)sichere Radinfrastruktur, man muss ihn nur anders verteilen.“ Ergänzend sagt Klein: „Der Gürtel ist natürlich nicht das einzige ‚Sorgenkind‘ im Wiener Radverkehr. Das fehlende Netz an Radwegen macht es Familien kaum möglich, ihre Ziele in Wien sicher mit dem Rad zu erreichen.“

Damit sich das ändert, organisiert Klein seit 2018 Fahrraddemonstrationen namens „Kidical Mass“. Diese familientaugliche Version der „Critical Mass“ findet österreichweit in einigen Städten statt. Die nächsten Termine in Wien sind am 6.5. und 3.6.2023 – demonstriert wird u. a. für kindgerechte sichere Radinfrastruktur. Davon profitieren auch Erwachsene, die Alltagswege derzeit nicht radelnd zurücklegen, weil ihnen das Radfahren im Mischverkehr zu gefährlich ist.

Wer autofreie Stadtteile will, muss Radwege bauen

Zurück zum Stadtenwicklungsgebiet Aspanggründe. Bis zum Jahr 2026 sollen dort 3.100 geplanten Wohnungen fertiggestellt werden. Der neue Stadtteil wurde als weitgehend autofrei geplant. Nimmt die Stadt ihre Klimaziele ernst, würde das bedeuteten, dass nicht nur das Wohngebiet frei von Autoverkehr ist, sondern auch die An- und Abreise autofrei erfolgt. Das ist derzeit allerdings gar nicht so leicht möglich. In angenehmer Fußgehreichweite sind die Aspanggründe derzeit nur durch die S-Bahn-Station „St. Marx“ ans hochrangige öffentliche Verkehrsnetz angeschlossen. Aufgrund der Nähe zum Stadtzentrum und dem Hauptbahnhof kann dem Fahrrad eine große Rolle als Alltagsverkehrsmittel zukommen, auch wenn es nur der Überbrückung der „letzten Meile“ dienen mag. Die Stationen „Hauptbahnhof“, „Schlachthausgasse“ und „Stadtpark“ der U-Bahn-Linien U1, U3 und U4 liegen 1-2 Kilometer von den Aspanggründen entfernt und wären somit gut für die klimafreundliche Kombination „Fahrrad & Öffis“ geeignet. Wären. Denn aktuell ist nur der Hauptbahnhof über einen sicheren Radweg erreichbar. Weder die Schlachthausgasse noch der Rennweg verfügen über Radinfrastruktur. Ein Radweg in der Schlachthausgasse wäre nicht nur eine Verbindung zur U3, sondern auch mit der sicheren Radroute am Donaukanal, im Prater und weiter bis zur Donauinsel und in die Donaustadt. Ein Lückenschluss von rund 1,3 Kilometer Länge, der einen großen Unterschied macht.

Schöne Worte sind nicht genug

Die Wiener Stadtregierung hat sich das Ziel gesetzt, den Autoverkehr in den nächsten Jahren drastisch zu reduzieren. 2022 wurden 26 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt. Bis 2025 soll dieser Anteil auf 20 Prozent sinken. Das wird nur gelingen, wenn rasch attraktive Alternativen zum Autofahren geschaffen werden. Da der öffentliche Verkehr innerhalb des Gürtels bereits recht gut ausgebaut ist, bleibt der Radverkehr der größte Hebel, dieses Ziel zu erreichen. Abgesehen vom Gürtel braucht es selbstverständlich auch auf allen daran anschließenden Hauptstraßen Radwege. Die fehlen derzeit nämlich großteils. Das ist aber eine andere Geschichte.

Der Gürtelradweg als Aneinanderreihung verschiedenster Problemstellen ist alles andere als attraktiv. Er wird benutzt, weil die Alternative noch abschreckender sind: Das Radfahren im Mischverkehr mit Kfz. Das Potenzial des Gürtels für den Radverkehr wird bei Weitem nicht voll ausgeschöpft. Der Gürtelradweg muss daher zum Gürtel-Radschnellweg werden: Breit, durchgängig, direkt und mit einer Minimierung der Konfliktstellen mit dem Fußverkehr. Am Hernalser Gürtel befindet sich ein vorbildlicher Abschnitt. Auf einer Länge von 500 Metern ist der Gürtelradweg dort als großzügig breiter Radweg ausgeführt. Diese Qualität ist auf den vollen 11 Kilometern des Gürtels wünschenswert.

Radschnellweg ist zugleich Blaulichtspur

Die einfachste und am schnellsten realisierbare Möglichkeit, dies zu erreichen, stellt das Abtrennen der jeweils inneren Kfz-Fahrspur dar. Diese Variante erleichtert nicht nur Radfahrenden und Zufußgehenden den Alltag, sondern auch Blaulichtorganisationen. Denn gut ausgebaute Radwege können auch von Einsatzfahrzeugen befahren werden, um schnell am für den Gürtel typischen Stau vorbeizukommen. Im Gegensatz zu Autofahrenden können Radfahrende nämlich schnell Platz machen. Gut ausgeführte Radwege retten somit nicht nur Leben Radfahrender.

Radschnellweg statt Scheinmaßnahmen

Ein Radschnellweg am Gürtel löst als Einzelmaßnahme nicht alle Probleme und wird Wien nicht zur Klimamusterstadt machen. Er wäre aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und würde zeigen, dass die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ ihre eigenen Ziele ernst nimmt.
Bisher glänzt die Stadtregierung aber vor allem durch Mini-Maßnahmen und Scheinklimaschutz. Einen Radschnellweg am Gürtel lehnen die Verantwortlichen ab: „Stadt Wien findet Gürtelradweg okay“.
Deshalb veranstalten „Radeln For Future“ und „Parents For Future“ am 5.5.2023 den von der Polizei begleiteten und abgesicherten „Gürtel Bike Ride“. Die Teilnehmenden radeln dabei auf allen Fahrbahnen von der Spittelau bis nach St. Marx und wieder retour und fordern: Radschnellweg jetzt!


Gürtel Bike Ride

Treffpunkt: Freitag, 5.5.2023, 17:00, beim Votivpark

Alle Infos

Weiterführende Informationen:

Gürtel Bike Ride
Kidical Mass
Critical Mass
Parents For Future
Wiener Klimafahrplan bis 2040
Fachkonzept Mobilität
Koalitionsprogramm „Fortschrittskoalition“
Modal Split 2022 und 2021
Stadtentwicklungsgebiet Aspanggründe
Aktivisten demonstrieren: Wie sicher ist das Radeln am Gürtel im 9. Bezirk?