Vom Hausverstand, schönen Worten, fehlenden und falschen Taten

Für alle, die den Zustand des Wiener Hauptradverkehrsnetzes kennen, war unser Aprilscherz leicht durchschaubar. Das Statement war eine Mischung aus Fakten und Zitaten aus von der Stadt Wien veröffentlichten Dokumenten, garniert mit schöngefärbten Aussagen im Stile der selbsternannten Wiener Fortschrittskoalition.

Radeln For Future verabschiedet sich nicht

Zumindest in absehbarer Zeit nicht. Es gibt zwar von Jahr zu Jahr Fortschritte im Ausbau des Radwegenetzes, aber mit dem Schneckentempo der Stadtregierung ist das Ziel eines dichten Netzes durchgängiger Radwege noch weit entfernt. Es besteht daher weiterhin Bedarf an unseren monatlichen Raddemos und anderen Aktionen. Die nächste Gelegenheit zum Mitradeln gibt es schon am Freitag, 5. April 2024. Die Route führt gemeinsam mit 3 lokalen Initiativen durch Ottakring und Hernals.

Fortschritte, aber zu wenig und zu langsam

Die jährlichen Bauprogramme für Radverkehrsanlagen umfassen seit 2022 mehr Projekte und davon sind auch mehr Radwege als früher. Diese Verbesserung basiert vor allem auf höheren Fördergeldern aus dem Bundesbudget. Wurden bis 2020 nur 1-1,5 Mio. Euro vom Bund zugeschossen, erhöhte sich dieser Betrag für 2021 und 2022 schon auf je rund 6 Mio. Euro. Für 2023/24 wurden vom Bund sogar Fördergelder in der Höhe von 28 Mio. Euro zugesagt – unter der Voraussetzung, dass die eingereichten Projekte innerhalb der nächsten 2 Jahre umgesetzt werden. Aus dem Budget der Stadt Wien hat die selbsternannte Fortschrittskoalition für die aktuelle Legislaturperiode 26 Mio. Euro für den Radverkehr eingeplant – also rund 5,2 Mio. Euro jährlich. Weitere Details zu diesem Thema bietet die Analyse der Radlobby.

Gemessen am erhöhten Budget ist die gesteigerte Qualität der jährlich angekündigen Projekte – von denen längst nicht alle umgesetzt und fertiggestellt werden, s. die Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“ – nicht mega, sondern eine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommt, dass nicht alle Projekte den Bau neuer Radwege umfassen, wie es durch die Bezeichnung suggeriert wird.

Papier ist geduldig

Am Papier haben z. B. fahrradfreundliche Strukturen hohe Priorität bei der Planung neuer Stadtgebiete. Die Realität offenbart den Unterschied zwischen Beschlüssen und deren Umsetzung. Weder in der Seestadt Aspern noch im Nordbahnviertel wurde bisher sichere Radinfrastruktur errichtet. In den beiden neuen Stadtvierteln bestehen die Anlagen des Hauptradverkehrsnetzes auf den Hauptstraßen nur aus Mehrzweckstreifen. Nebenstraßen sind durch die teilweise Gestaltung als Sackgassen für Kfz zwar verkehrsberuhigt, aber im Alltag Radelnde bevorzugen wie auch Autofahrende direkte Verbindungen. Daher ist es unerlässlich, die erwähnte hohe Priorität bei der Planung fahrradfreundlicher Strukturen vom Papier auf die Straße zu bringen und dabei auf praxistaugliche direkte Verbindungen zu setzen.

Mehr Radverkehr hilft bei der Lösung innerstädtischer Verkehrsprobleme

Auch in diesem Punkt klafft eine riesige Lücke zwischen den Bekenntnissen auf Papier und der Umsetzung. Beim Überfliegen der Regierungsvereinbarung der Wiener Fortschrittskoalition erscheint es, als ob die Verantwortlichen die Notwendigkeit der Verkehrswende tatsächlich erkannt hätten, in der Praxis dominieren Scheinlösungen.

Der Kurs von Verkehrsstadträtin Sima stimmt nur zum Teil. Auf der einen Seite lässt sie das Radwegenetz weiterhin ausbauen, wobei Geschwindigkeit und Art des Ausbaus aber zu wünschen übrig lassen und nicht den Ankündigungen entsprechen, s. die Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“. Auf der anderen Seite verteidigt sie den Bau des als „Stadtstraße“ kleingeredeten Autobahnzubringers in der Donaustadt mit fadenscheinigen Argumenten.

Aufgrund des großteils gut ausgebauten Netzes des ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr) kommt dem Radverkehr in Wien große Bedeutung bei der anvisierten Reduktion des Autoverkehrs zu. Ein Netz sicherer Radwege ist ein attraktives Angebot, das vielen den Umstieg vom teuren klimaschädlichen Auto auf das günstigere klimafreundliche gesundheitsfördernde Fahrrad ermöglicht.

Mehr Radverkehr hebt insgesamt die Lebensqualität in den Städten

Diese Überschrift ist ein zutreffendes Zitat aus dem Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“. Es gibt viele Gründe, warum die Lebensqualität durch ein Mehr an Rad- und ein Weniger an Kfz-Verkehr steigt. Ein paar davon sind: Weniger Lärm, weniger Unfälle, weniger Emissionen, bessere Gesundheit, mehr soziale Gerechtigkeit.

Wien ist eine der lebenswertesten Städte der Welt, aber leider nicht für alle. Für Radfahrende und dabei speziell für Kinder gibt es ganz klar bessere Städte. Auch für Menschen, die gerne im Alltag mit dem Radfahren wollen, es aber mangels sicherer Radwege nicht wagen, fehlt ein attraktives Angebot.

Bis zur 33. Novelle der Straßenverkehrsordnung war das Nebeneinanderfahren Radfahrender nur in Fahrradstraßen erlaubt. Jetzt dürfen Kinder auf diese Weise vollkommen legal vom Kfz-Verkehr abgeschirmt werden. Wer jemals radfahrende Kinder im Straßenverkehr begleitet hat, weiß wie wichtig diese Änderung in der StVO war. Gleichzeitig kann das aber nur als Notlösung gelten, bis auf allen Hauptstraßen Radwege errichtet und Seitengassen verkehrsberuhigt sind.

Viele meinen, Kinder bräuchten keine Radwege, weil sie auf Gehsteigen radeln können. Das Gesetz erlaubt das allerdings nur mit Fahrrädern, deren Felgendurchmesser maximal 30 Zentimeter beträgt. Haben die Fahrräder größere Felgen montiert, dürfen legal nur Radwege und Straßen befahren werden. Dass Volksschulkinder in Wien kostenlose Radfahrkurse besuchen können ist begrüßenswert, wichtiger wäre aber der rasche und flächendeckende Ausbau sicherer Infrastruktur. Denn wer denkt, dass ein mehrstündiger Kurs Kinder auf das Radeln im Mischverkehr mit Kfz vorbereiten kann?

Schöne Worte, fehlende Taten …

Der Wiener Klimafahrplan wurde am 23. Februar 2022 mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, GRÜNE und NEOS beschlossen. Darin wird u. a. vermerkt, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Modal Split bis zum Jahr 2030 auf 15 Prozent sinkt (2023: 26 Prozent). Wieder zeigt sich der Unterschied zwischen Beschlüssen am Papier und der Umsetzung in der Praxis. Auch Fachleute sehen nicht, wie der für 2030 gewünschte Modal Split mit den Maßnahmen der Fortschrittskoalition erreicht werden kann.

… und falsche Taten

Die Wiener Fortschrittskoalition treibt auch große Straßenbauprojekte wie den Autobahnzubringer „Stadtstraße“ oder die Sanierung der Autobahn A4, für die mehr als 1.200 Bäume gerodet werden sollen, voran. Mit derartigen Projekten rücken die Ziele des Klimafahrplans in weite Ferne.

Hirschstetten ist nicht mehr zu retten, aber für die Bäume neben der A4 entlang des Donaukanals besteht noch Hoffnung. Wenn SPÖ und NEOS dabei mithelfen wollen, Wien zur Klimamusterstadt zu machen, müssen sie sich für eine klimafitte Sanierung der A4 einsetzen. Denn auch tausende Neupflanzungen können Jahrzehnte alte gesunde Bäume nicht ersetzen.

Um für den Erhalt der Bäume und des Radweges neben der A4 zu protestieren, findet am 13.4. eine Raddemo statt. Diese wird von einem breiten Bündnis verschiedenster Initiativen organisiert und unterstützt und führt an den geplanten Tatorten vorbei.

Wenn der Hausverstand zu kurz denkt

Politisch Verantwortliche bringen oft den Hausverstand ins Spiel, wenn sie sich von der Bevölkerung Zustimmung erhoffen, die von wissenschaftlicher Seite nicht gegeben ist. Bei Straßenbauprojekten wird es dann gerne so dargestellt, als ob weitere Fahrspuren oder gar komplett neue große Straßen zur Entlastung bestehender Straßen führen. Kurzfristig stimmt das sogar. Vom Danach sprechen politisch Verantwortliche aber ungern. Denn so, wie der Hausverstand zum Schluss kommt, dass der Verkehr auf Straßen, deren Verkehrsbelastung auf mehr Spuren verteilt wird, flüssiger wird, kommt der Hausverstand auch zum Schluss, dass diese Straßen dadurch für Autofahrende attraktiver werden. Darum ziehen neue Straßen Autoverkehr an und nach einer gewissen Zeit ist wieder alles beim Alten.

Das Angebot macht den Verkehr

Dieses Phänomen wird induzierter Verkehr genannt: Mehr Angebot an Infrastruktur führt zu mehr Verkehr. Das funktioniert auch umgekehrt: Weniger Angebot führt zu weniger Verkehr. Das betrifft nicht nur Kfz-, sondern auch ÖPN-, Rad- und Fußverkehr.

Durch die Planung des Angebots hat es die Fortschrittskoalition in der Hand, wie der Verkehr in Zukunft aussehen soll. Durch ihre autofreundliche Verkehrspolitik untergraben SPÖ und NEOS den von ihnen mitbeschlossenen Wiener Klimafahrplan und legen der Stadt Wien bei ihren Bemühungen, ihre Klimaziele zu erreichen, große Steine in den Weg. Aber auch die Bezirke sind gefordert, Blockaden zu beenden, damit Wien eine Klimamusterstadt werden kann.

Radwegoffensive für den gewünschten Modal Split

Was von den sogenannten Mega-Radwegoffensiven zu halten ist, wurde bereits ausgeführt. Der Radverkehrsanteil von 10 Prozent sollte laut Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“ vom Mai 2013 schon 2015 erreicht werden. 2012 betrug der Anteil des Radverkehrs 6 Prozent, 2015 wurden nur 7 Prozent erreicht. Auf diesem Wert stagnierte der Anteil, bis die Corona-Pandemie dem Radfahren einen Schub gab und auf 9 Prozent hob.

Da der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bis 2030 von 26 auf 15 Prozent sinken soll, muss die Anzahl der im Umweltverbund (ÖPNV, Rad- und Fußverkehr) zurückgelegten Wege um 11 Prozent wachsen. Wie schon ausgeführt wurde, ist der ÖPNV innerstädtisch gut ausgebaut. Der Anteil des ÖPNV am Modal Split wuchs von 29 Prozent im Jahr 1993 auf 39 Prozent im Jahr 2016 und lag im Jahr 2023 bei 32 Prozent. Wie eine interaktive Grafik des ORF zeigt, beträgt der Anteil des Autoverkehrs seit 2012 um die 27 Prozent. Der Großteil der Veränderungen bestand seitdem aus Verschiebungen innerhalb des Umweltverbundes.
In einer Mobilitätsumfrage des VCÖ gaben 44 Prozent der Autofahrenden in Wien an, manchmal vom Auto abhängig zu sein, obwohl sie lieber anders unterwegs wären.

Was sagt der Hausverstand dazu?

Offensichtlich gibt es für Autofahrende kein attraktives Angebot zum Umstieg. Will die Fortschrittskoalition der Stadt Wien beim Erreichen der Klimaziele nicht nur am Papier helfen, muss sie Maßnahmen treffen, die den Autoverkehr nachhaltig reduzieren. 33 Prozent der mit dem Auto zurückgelegten Wege in Wien sind zwischen 1 und 5 Kilometer lang, 28 Prozent 5 bis 10 Kilometer lang. Für solche Distanzen ist das Fahrrad bestens geeignet – denn im Schnitt liegt der Besetzungsgrad eines Autos nur knapp über 1 und nicht mit jeder Autofahrt wird ein Kühlschrank oder Wocheneinkauf transportiert. Da die öffentlichen Verkehrsmittel bereits gut ausgebaut ist, liegt der Schlüssel in der Förderung des Radfahrens. Denn mehr Angebot an attraktiver Radinfrastruktur führt zu mehr Radverkehr. Attraktiv wird Radinfrastruktur durch sichere direkte durchgängige Radwege. Den Mangel an diesen gilt es rasch zu beheben.

Die nächsten Raddemos von „Radeln For Future“

Wir helfen der Stadt Wien gerne dabei, die Verkehrswende zu schaffen und ihre Klimaziele zu erreichen. Darum werden wir die politisch Verantwortlichen im Rathaus und den Bezirken auch weiterhin regelmäßig an ihre Versprechen und Beschlüsse erinnern.

Am 5. April 2024 radeln wir gemeinsam mit 3 Initiativen durch Ottakring und Hernals. Der „Sandleitner Radausflug“, die „Initiative Fahrradstraße 16/17“ und der „Bici-Bus Hernals“ setzen sich für mehr Fahrradinfrastruktur in den beiden Bezirken ein.

Als Abschluss der Runde durch Ottakring und Hernals wird der Gürtel zwischen Burggasse und Spittelau beradelt – ein kleiner Vorgeschmack auf den diesjährigen Gürtel Bike Ride, mit dem am 3. Mai 2024 ein Radschnellweg entlang des gesamten Gürtels gefordert wird und der 2023 laut Auskunft der Polizei mit bis zu 1.200 Teilnehmenden die bisher größte Demo von „Radeln For Future“ war. Von der Spittelau aus führt die Route über die Donaukanallände zurück zum Votivpark.

Treffpunkt ist wie immer um 17:00 Uhr beim Votivpark, die Abfahrt ist um 17:30 Uhr.

Wir freuen uns auch weiterhin auf euch! Radelt mit!

Weiterführende Informationen:
Radeln For Future 5.4.2024 Ankündigung
Gürtel Bike Ride 3.5.2024 Ankündigung
A4 Raddemo 13.4.2024 Ankündigung
Bici-Bus Hernals
Initiative Fahrradstraße 16/17
Sandleitner Radausflug
Einmal Gürtel und retour
Wiener Linien verzeichnen Fahrgast-Rekord (ORF, 23.1.2017)
Radwege sollen möglichst direkt verlaufen (ORF, 27.3.2024)
Rekordsumme für Radwegausbau (ORF, 20.7.2023)
Anteil der Radfahrer in Wien steigt (ORF, 22.3.2024)
Presseaussendung zum Modal Split 2023 (22.3.2024)
Analyse der „Mega-Radwegoffensive 2023“
Rekordfördersumme des Bundes für Wien – Mittel reinvestieren! (Radlobby, 31.8.2023)
VCÖ
Das Phänomen Verkehr (Dipl.-Ing. Rudolf Pfleiderer, März 2009)
Längenverteilung von Autofahrten (Wien Energie, 9.11.2020)
Radwegoffensive 2022 (Mobilitätsagentur Wien)
Radwegoffensive 2023 (Mobilitätsagentur Wien)
Radwegoffensive 2024 (Mobilitätsagentur Wien)
Grundsatzbeschluss „Radfahren in Wien“ (Mai 2013)
Wiener Klimafahrplan – Unser Weg zur klimagerechten Stadt (März 2022)
Koalitionsabkommen der Wiener Fortschrittskoalition (Dezember 2020)